Zukunft ohne Kohle? - FALTER.natur #93

Katharina Kropshofer
Versendet am 13.01.2023

Es mag wie ein gewöhnliches Tor aussehen: Aber hier hielt Greta Thunberg 2021 eine Pressekonferenz ab. Der Künstler Thomas Baumgärtel sprayte sein Markenzeichen, eine Banane, darauf. Der "letzte Bauer von Lützerath" verteidigte sein Dorf hier vor zehn Jahren noch unerbittlich. 

Und Donnerstag Früh zersägten es Einsatzkräfte der Polizei. 

Es ist nicht der einzige symbolhafte Ort in Lützerath, der zerstört wird. Das Dorf nicht das erste, das für den Kohleabbau in Deutschland geräumt werden soll. Trotzdem: Man hatte in den vergangenen Tagen das Gefühl, etwas Historisches zu beobachten. Und kam bei Bildern von tausenden Aktivist:innen, die von weitaus mehr Polizisten umzingelt oder weggetragen werden, riesigen Baggerschaufeln und surreale Landschaften im Hintergrund, nicht umhin, den Kopf zu schütteln: Ein Dorf, das im Jahr 2023, in dem sich die Klimakrise Monat für Monat zuspitzt, für weitere fossile Infrastruktur weichen soll?

Bilder beiseite. Es ist nicht leicht, sich einen Überblick über die wissenschaftlichen Hintergründe der Ereignisse zu verschaffen. Deshalb habe ich mich für Sie durch die Studienlage gegraben: 

Wieso Lützerath?

Schon in den 1920ern begannen deutsche Kohleunternehmen mit dem Abbau des Rohstoffs. 300 Dörfer, 100.000 Menschen, Kirchen, Gasthäuser, Schulen wurden seither geräumt. In Lützerath lebten einmal 100 Menschen. Der letzte Landwirt verließ den Ort vergangenen Oktober, jetzt wohnen dort eigentlich nur noch Aktivist:innen in Zelten, Baumhäusern, bunt bemalten Häusern. Sie stemmen sich gegen den Tagebau Garzweiler II des Unternehmens RWE. Dieser soll mit dem Zuspruch zweier Grüner Minister entstehen: Mona Neubaur, Wirtschaftsministerin Nordrhein-Westfalens, und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Sie haben einen "Kompromiss" mit dem Kohleunternehmen RWE erzielt. Der Kohleausstieg kommt schon 2030, acht Jahre früher als geplant. Dafür darf hier bis dahin noch Braunkohle gefördert werden. Aufgrund der Energiekrise. Lützerath ist ein Kollateralschäden, der in Kauf genommen wird.

Wie viel Kohle wird bis 2030 überhaupt noch gebraucht? 

Auch hier gibt es verschiedene Zahlen: Zwischen 132 und 183 Millionen Tonnen Nachfrage berechnet eine Studie im Auftrag der Landesregierung. FossilExit, eine Forschungsgruppe aus Unis in Flensburg und Berlin, kommt auf rund 120 Millionen Tonnen – wobei sie sich nur auf die Stromerzeugung beziehen und nicht auf Braunkohlebedarf für die Kohleveredlung. Dafür wird Kohle für andere Rohstoffe umgewandelt, etwa in Braunkohlestaub für industrielle Kraftwerke. Addiert man den Bedarf aus den Studien der Kohlegegner mit dem Bedarf der Veredlungsprodukte, komme man auf ein Ergebnis, bei dem es ohne der Braunkohle unter Lützerath knapp wird, so Professor Michael Fischedick, der Geschäftsführer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie.

FossilExit untersuchte auch, wie viel Kohle im Tagebau Garzweiler überhaupt noch förderbar ist. Die höchste Fördermenge, bei der Lützerath noch erhalten bleiben kann, wären 170 Millionen Tonnen. Doch dann wäre die Fläche rundherum so ausgehöhlt, dass das Dorf selbst nicht mehr sicher wäre. Lützerath selbst brächte weitere 110 Millionen Tonnen. 

Braucht es diese Kohle für Deutschlands Energiesicherheit?

Kommt darauf an, wen man fragt. Die grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalens stützt sich auf ein Gutachten des Büros für Energiewirtschaft und Technische Planung, das sagt: Die Kohle unter Lützerath ist notwendig für die Energiesicherheit Deutschlands. Das Gutachten bezieht sich aber zum Teil auf Zahlen der RWE selbst. Die Aktivist:innen verweisen auf Studien wie die des Energieforschungszentrums Aurora, die das Gegenteil sagen und zeigen, dass die Klimaziele so nicht erreicht werden können. Wer hat recht? 

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schreibt folgendes: "Bei entsprechender frühzeitiger Drosselung der Produktion benötigt ein Kohleausstiegspfad im Tagebaukomplex Hambach und Garzweiler bis zum Jahr 2028 noch maximal 200 Millionen Tonnen. Dieser Kohleausstiegspfad im Einklang mit dem 1,5° Budget gewährleistet auch den Erhalt der Garzweiler Dörfer."

Aus energiepolitischer Sicht bestehe also keine Notwendigkeit für einen kompletten Aufschluss der Kohlefelder unter Lützerath. Nur: Die Studie stammt aus dem Juni 2021 und berücksichtigt nicht die aktuellen Entwicklungen durch den Ukrainekrieg. Die Autoren der Studie haben aber mittlerweile auch aktualisierte, wenn auch kleinere Studien vorgelegt, die zum Schluss kommen, dass der Abbau der Braunkohle unter Lützerath nicht unbedingt notwendig ist. 

Und diese ordnet der Professor Michael Sterner der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg so ein: Der errechnete Braunkohlebedarf liege nicht so deutlich über der Marke, die für oder gegen den Erhalt von Lützerath spricht. Also "kann meines Erachtens nicht der Rückschluss gezogen werden, Lützerath müsse auch zum Erhalt der technischen Versorgungssicherheit abgebaggert werden." Es gebe schließlich immer technische Alternativen.

Können die Klimaziele auch erreicht werden, wenn Lützerath fällt? 

Das kommt auf ein paar Dinge an: Theoretisch kann die Kohle, die in Lützerath abgebaggert wird, auch woanders eingespart werden. Pragmatisch fasst das der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer zusammen: "Solange die Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen (der EU, Anm.) wirklich hart bleibt und sinkt, und der CO2-Preis wirkt, können wir vorübergehend auch mehr Kohle verfeuern – weil dies zur Einsparung von Emissionen an anderer Stelle führt, also unterm Strich nicht zusätzliche klimaschädliche Abgase in die Atmosphäre gelangen. Auch wenn Lützerath abgebaggert wird, hat die Kohle keine Zukunft."

Die Kohlenachfrage könnte jedenfalls noch weiter reduziert werden. Durch "Energieeinsparungen, Reduktion der Kohleveredelung, Verlagerung der Braunkohlestromerzeugung in den benachbarten Tagebaukomplex Inden/Weisweiler, sowie Ersatz von Braunkohlestrom durch CO2-ärmere Energieträger wie Erneuerbare, Gas, Steinkohle oder Stromimporte", schreibt ein Forscher des FossilExit Projekts im Tagesspiegel. 

Würde der vorgezogene Kohleausstieg überhaupt was für die Klimaziele bringen?

Nein, sagt eine Studie der Energieexperten des Energie-Forschungszentrums Aurora (die sie für das kohlekritische Bündnis Europe Beyond Coal durchgeführt haben). Es gebe dadurch keine Einsparung, sondern durch das kurzfristige Anfeuern der Kohlenmeiler bis zu 61 Millionen Tonnen CO2 mehr. Den Emissionspfad, der für 2030 vorgesehen ist, könne Deutschland so nicht mehr erreichen. Kurz gefasst: Das Rückholen von Kohlekraftwerken, die eigentlich abzuschalten wären, erhöht die Emissionen bis 2030 so sehr, dass der um acht Jahre vorgezogene Kohleausstieg das nicht mehr wettmachen kann. 

Bis 2030 wird Kohle ohnehin unwirtschaftlich sein. Eine früherer Ausstieg rechnet sich aufgrund steigender CO2-Bepreisung nicht mehr.

Soll Lützerath also bleiben? 

Kommt darauf an, was man retten will. Menschen gibt es dort nicht mehr, ihre Häuser gehören bereits der RWE. Baut man die Kohle unter dem Ort ab, verfeuert sie, müssen die entstandenen Emissionen woanders wegfallen. Leichter macht das das Erreichen der Klimaziele sicher nicht. Eines ist klar: Eine symbolische Strahlkraft hat der Ort. Ob er abgebaut wird oder nicht, ist schlussendlich eine politische Entscheidung.

Katharina Kropshofer

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Noch nicht genug?

Im Podcast des WDR spricht ein Lokalreporter, der die Ereignisse rund um die Braunkohledörfer schon seit mehr als zehn Jahren beobachtet.

Im Liveticker Lützerath erfährt man zeitnahe, was dort gerade vor sich geht – aus Sicht der Journalist:innen hier, aus Sicht der Polizei hier, aus Sicht der Aktivist:innen hier.

Übrigens: Österreich selbst baut keine Kohle mehr ab. Neun Prozent des Energiemixes macht diese trotzdem noch aus.

Als Unterstützung für Lützerath haben auch Aktivist:innen in Wien zur Demo aufgerufen: Samstag um 14 Uhr beim Ballhausplatz.


Natur im Falter

Lützerath ist momentan nicht der einzige Schauplatz für Klimaaktivismus. Die Letzte Generation veranstaltet seit Montag eine "Klebewoche", blockiert täglich Straßen und plant andere Aktionen. Dienstag solidarisierte sich sogar eine Gruppe an namhaften Wissenschafter:innen mit ihnen.

Das können Sie auch im FALTER verfolgen: Der FALTER.morgen aktualisiert die Lage fast täglich (hier gratis abonnieren), auch Florian Klenk hat sein Maily den Aktivist:innen gewidmet.

Wie Klimaschutz schon funktionieren kann, zeigen meine Kollegin Nina Horaczek, mein Kollege Benedikt Narodoslawsky und ich in der dieswöchigen FALTER-Ausgabe: Wir senden Ihnen dort einen Gruß aus fünf Gemeinden in Österreich, in denen das mit Klimaschutz schon recht gut funktioniert. Spoiler: Sie haben alle einen ÖVP-Bürgermeister. Ein kostenloses Test-Abo können Sie hier bestellen.


Rund um die Klimakrise

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Und während die Regierung auf Klausur ist (und neue Klimamaßnahmen in Bewegung bringen will), startet heute auch eine neue Initiative gemeinsam mit Ex-Gesundheitsminister Rudi Anschober. Neustart Klima fordert die Bundesregierung und alle Landeshauptleute auf, politische Blockaden zu beenden und die Energiewende naturverträglich umzusetzen.


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