Der Spritzmittel-Streit - FALTER.natur #99

Gerlinde Pölsler
Versendet am 24.02.2023

Das ging nach hinten los: Weil Südtirol, Europas größtes Apfelanbaugebiet, Kritik an seinem Spritzmitteleinsatz nicht akzeptieren wollte, klagte der Südtiroler Agrarlandesrat gemeinsam mit hunderten Bauern das Umweltinstitut München und den österreichischen Autor Alexander Schiebel wegen übler Nachrede. Das war 2017. Spätestens da wusste ganz Europa über das Pestizidproblem in der Bilderbuch-Urlaubsregion Bescheid. Nun sprach das Gericht sprach die Kritiker frei, mehr noch: Die Staatsanwaltschaft Bozen beschlagnahmte Pestiziddaten von 681 Apfelanbaubetrieben aus der Region Vinschgau als Beweismittel. Mehr noch: das angeklagte Umweltinstitut erhielt Akteneinsicht. Es hat nun einen “europaweit einzigartigen Datenschatz” in Händen, dessen Auswertung es kürzlich vorstellte.

Ergebnis: Zwischen Anfang März und Ende September gab es keinen einzigen Tag, an dem im Vinschgau nicht gespritzt wurde. “Bei mehr als der Hälfte der untersuchten Einsätze kamen mehrere Mittel gleichzeitig auf die Plantagen. Dabei wurden am selben Tag bis zu neun verschiedene Mittel gespritzt.” Am fünfthäufigsten kam das umstrittene Totalherbizid Glyphosat zum Einsatz.

Seit mehr als drei Jahrzehnten gibt es auf EU-Ebene immer wieder Initiativen mit dem Ziel, weniger synthetische Pestizide auf die Felder zu bringen. Schließlich ist seit Rachel Carsons Jahrhundertbuch “Der stumme Frühling” aus 1962 bekannt, dass Pestizide sich im Boden, im Wasser und in Organismen anreichern und am Artensterben Mitschuld sind.

Was Pestizide bei Insekten anrichten, hat der renommierte Hummelforscher Dave Goulson hier vor einem Jahr hier im Falter erklärt.

2020 aber verkündete die EU-Kommission mit ihrem Green Deal Pläne, die ausgebrachten Pestizidmengen und deren Risken bis 2030 zu halbieren und die biologisch bewirtschafteten Flächen auf ein Viertel zu erhöhen. Im Juni des Vorjahrs präsentierte sie den Gesetzesvorschlag. Diesmal soll es verbindlich sein.

Der Gegenwind ist heftig. Österreich forderte im vergangenen Herbst gemeinsam mit Polen, Ungarn und weiteren Ländern, die EU-Kommission solle noch einmal Folgeabschätzungen zum Gesetzesvorschlag vornehmen. Bis Ende Juni muss diese nun die geforderten Daten liefern. Das verzögert die Initiative nicht nur, sondern könnte sie sogar ganz zu Fall bringen, falls die Kommission sie bis zum Ende ihres Mandats im Jahr 2024 nicht durchbringt.

Die Kritiker – zu ihnen zählt auch Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) – argumentieren damit, dass ohne synthetische Pestizide bzw. auf Bioflächen die Erträge geringer seien – das gefährde die Ernährungssicherheit. Dem hielten mehr als 600 Wissenschafter:innen in einem offenen Brief entgegen, es gehe darum, “die Grundlage für eine langfristige Ernährungssicherheit zu erhalten.”

Außerdem seien auch die von Biobauern eingesetzten Pestizide bedenklich. Ausgerechnet der Europäische Pflanzenschutzverband mit Chemieriesen wie Bayer und Syngenta warnte vor “ökologischen Kompromissen”, die eine Zunahme der Biolandwirtschaft mit sich bringe. Dazu zähle “ein erhöhtes Gesamtvolumen des Einsatzes von Pestiziden”, da einige Produkte der ökologischen Landwirtschaft “in viel größeren Mengen als chemische Alternativen ausgebracht werden müssen.”

Aber was sagt das aus? Schließlich genügen bei den für Bienen hoch schädlichen Neonicotinoiden wenige Gramm pro Hektar für die gewünschte Wirkung, wie Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000, erklärt. Setzt eine Apfelbäurin dagegen Rapsöl gegen Insektenbefall ein, braucht sie dafür mehrere zehn Liter pro Hektar.

Burtscher-Schaden, der Biologe Thomas Durstberger und Boku-Forscher Johann Zaller haben nun im Auftrag des Europäischen Dachverbands der Biolandwirtschaft die 256 Pestizide der konventionellen Landwirtschaft und die 134 Pestizide, die auch in der Biolandwirtschaft erlaubt sind, verglichen. Die Ergebnisse wurden im Wissenschaftsjournal „Toxics“ publiziert (hier finden Sie eine Zusammenfassung).

Von den 256 ausschließlich in der konventionellen Landwirtschaft erlaubten Pestizidwirkstoffen tragen 55 Prozent Hinweise auf Gesundheits- oder Umweltgefahren. Bei den 134 natürlichen Wirkstoffen, die (auch) in der Biolandwirtschaft erlaubt sind, sind es nur drei Prozent.

Warnhinweise über mögliche Schäden für das ungeborene Kind, akute tödliche Wirkungen oder den Verdacht, dass das Mittel krebserregend ist, fanden sich bei den konventionellen Pestiziden zu 16 Prozent – aber in keinem mit Bio-Zulassung.

Mehr als die Hälfte der zugelassenen Bio-Pestizide seien keine Wirkstoffe, sondern lebende Mikroorganismen. Weitere 19 Prozent sind von vornherein als „Wirkstoffe mit geringem Risiko“ eingestuft – zum Beispiel Backpulver – oder als Grundstoffe zugelassen: Sonnenblumenöl, Essig, Milch.

Am kommenden Donnerstag wird Österreichs Grüne EU-Abgeordnete Sarah Wiener, federführend beim Thema im Umweltausschuss, ihren Abschlussbericht präsentieren. Auch sie will anstatt der Pestizidmengen die Risiken für Menschen und Umwelt in den Vordergrund rücken.

Die EU-Kommission muss wiederum erklären, wie sie auf den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) reagieren wird, wonach Notfallzulassungen für bereits verbotene Neonicotinoide unzulässig seien.

Viele Länder nutzten diese Möglichkeit, bereits als gefährlich eingestufte Spritzmittel durch die Hintertür weiter zu verwenden. Auch Österreich hat für dieses Jahr wieder vier Notfallzulassungen eingereicht, etwa für Zuckerrüben.

Ob die künftig alle untersagt werden? Heftige Debatten stehen bevor.

Gerlinde Pölsler

Anzeige

Berge in Gefahr

Regisseur Robert Schabus erkundet in seinem Dokumentarfilm Alpenland den schwindenden Lebensraum Alpen: vom Bergbauern in Kärnten, über die Messer-Manufaktur in Italien bis zum Wintersportort Zermatt. Die tragische Komponente, die alle Regionen verbindet, ist der Klimawandel.

Erhältlich im faltershop.at


Natur im Krieg

Im Krieg leiden nicht nur Menschen, sondern auch die Umwelt. Benedikt Narodoslawsky nutzte im Falter den ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine für eine Bilanz. Das ukrainische Umweltministerium analysierte die Umweltschäden seit Kriegsbeginn: “15 Prozent der Ackerfläche seien demnach vermint, 1597 Tonnen Schadstoffe in die Gewässer gelangt, 687.000 Tonnen Erdölprodukte aufgrund des Beschusses verbrannt, mehr als 59.000 Hektar Wald und Plantagen im Kugelfeuer vernichtet - eine Fläche größer als Wien. Dazu kommt das Kernkraftwerk Saporischschja am Fluss Dnipro.” Narodoslawsky analysiert auch frühere militärische Konflikte, vom Zweiten Weltkrieg über den Golf- und Vietnamkrieg bis zu den Narben des Kriegs in Aserbaidschan.


Kinder klagen

Zwölf Minderjährige zwischen fünf und sechzehn Jahren haben beim Verfassungsgerichtshof Klage eingereicht, weil sie das Klimaschutzgesetz für unbrauchbar halten und durch die Klimakrise ihre Zukunft bedroht sehen. “In Deutschland war eine ähnliche Klage bereits erfolgreich: Das Bundesverfassungsgericht zwang die Politik, das deutsche Klimaschutzgesetz nachzuschärfen.

In Österreich vertritt die Anwältin Michaela Krömer die Minderjährigen. Sie hat vor drei Jahren bereits Österreichs erste Klimaklage eingebracht und ist abgeblitzt. Im Interview erzählt sie, warum sie jetzt dennoch Chancen sieht und was sie dazu sagt, dass es weniger eine Kinder- als vielmehr eine “Elternklage” sei.


Klimaschädliche Subventionen

14,5 Milliarden Euro steckt Österreich in klimaschädliche Subventionen - dabei hätten die Fördermittel in der Energiekrise vor allem schwächeren Haushalten und exponierten Unternehmen helfen sollen. Doch die temporären Mittel gingen weit darüber hinaus, wie Wifo-Ökonomin Daniela Kletzan kritisiert. Auch habe es im Gegenzug kaum Auflagen zu mehr Energieeffizienz gegeben. Nun werden die Subventionen die Emissionen steigen lassen, dabei will Österreich bis 2040 klimaneutral sein.


Frage der Woche

“Warum weist die Schweiz beinah nur die Hälfte der CO2-Emissionen pro Kopf im Vergleich zu Österreich auf?” Das fragte sich Leserin Nina Tröger, Konsumforscherin in der Abteilung KonsumentInnenpolitik der AK Wien. Sie könne sich nicht vorstellen, “dass die Schweizer weniger Burger essen, weniger SUVs fahren und weniger Einfamilien-Häuser besitzen … oder liegt es am Industriestandort, der unsere Emissionen so raufhaut?” Tröger bezieht sich dabei auf diese Statistik bei Statista.

Gottfried Kirchengast und Karl Steininger vom Grazer Wegener Center für Klimaforschung antworten: Frau Tröger habe mit ihrer Vermutung bezüglich Industriestandort recht. Tatsächlich “sind die produktionsbasierten Emissionen in der Schweiz niedriger als in Österreich”, die konsumbasierten jedoch sogar höher. Was heißt das nun?

Die produktionsbasierten Emissionen sind jene, die innerhalb der geografischen Grenzen des Landes ausgestoßen werden. Die Emissionen aller Güter, die in einem Land konsumiert werden, fallen jedoch oft in ganz anderen Ländern an. “Etwa wenn wir in Österreich ein Mobiltelefon kaufen, das in China produziert wurde”, erklärt Steininger.

“Die Schweiz hat durch ihre Wirtschaftsstruktur geringere produktionsbasierte Treibhausgas (THG)-Emissionen pro Kopf als Ö, weil sie einen viel höheren Anteil am BIP an Dienstleistungen (wie Versicherungen, Banken) hat, die eher nicht emissionsintensiv sind.” Gleichzeitig hat sie einen viel geringeren Anteil an energieintensiver Grundstoffindustrie als Österreich (etwa kaum Stahlproduktion).

“Beim Konsum-Fußabdruck ist die Schweiz aber schlechter als Österreich”, so Steininger: “Die Schweizer kaufen in Summe THG-intensivere Güter als die Österreicher, allein sie produzieren viel weniger von diesen im Inland. Sie importieren netto viel mehr ´schmutzige Güter´ (Güter, die im Ausland in der Produktion Emissionen verursacht haben) als die Österreicher.”

Wer sich diese Daten für weitere Länder ansehen will, dem empfiehlt Gottfried Kirchengast diese Datenbank unter "Emissionen - Europa".

Falls auch Sie eine Frage haben, schicken Sie sie uns gerne zu - antworten Sie einfach auf diesen Newsletter.


Termintipp

Das Gartenjahr geht los! Dazu passend steigt morgen, Samstag, das Saatgutfestival der Arche Noah (10-17 Uhr, VHS Meidling, Längenfeldgasse 13-15, 1120 Wien). Mehr als 20 Anbieter bieten Saatgut-Raritäten von A wie Amaranth über Purpurspargel und Schlangenknoblauch bis zu Z wie Zitronenmelisse. Wer es mit dem G´mias nicht so hat, greift zu Wiesenblumen wie der Kuckuckslichtnelke. Oder zu einem Feigensteckling.

Die Arche Noah-Leute selbst stehen für Sortenbestimmung zur Verfügung, außerdem gibt es Vorträge etwa zum “Bio-Balkongärtnern” (14 Uhr) oder “Politik prägt unser Saatgut – Wie prägen wir die Politik?” Hier gibt´s das ganze Programm.


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.natur-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!