Wo die Wilden Kerle wohnen - FALTER.natur #110

Katharina Kropshofer
Versendet am 12.05.2023

Das mit der Wildnis ist so eine Sache: Einerseits sehnen wir uns nach den Räumen außerhalb des Urbanen, in denen noch Unberechenbares passieren kann, wir aus nächster Nähe Bambi beim Grasen, den Vögelchen beim Nestbauen zusehen können. Doch kaum landet ein Käfer unwissend auf unseren Gliedmaßen, zerquetschen viele den ungebetenen Gast, ohne weiters darüber nachzudenken. 

Machen wir also wirklich einmal die Begegnung mit dieser "echten Wildnis", oder einem "echten Wildtier", sind wir überfordert. Zum Symbolbild dafür ist JJ4 geworden. Verwirrt dreht die Bärin – sie hat den Spitznamen Gaia bekommen – ihre Runden in einem kleinen Gehege, die italienischen Behörden haben es mit einem Stromdraht gesichert. Man hatte sie beschuldigt, im April einen jungen Jogger in der norditalienischen Provinz Trentino umgebracht zu haben. 

Nur: Veterinärmedizinische Gutachten ergaben, dass die DNA-Spuren von einem erwachsenen Bärenmännchen stammen müssen. Gaia ist vermutlich unschuldig. Nur was tun mit der Bärin, die nun in Gefangenschaft lebt? Tierschützer:innen wollen sie freilassen, der Trentiner Landeshauptmann die Bärin unmittelbar nach dem tödlichen Angriff abschießen lassen; dazu kommen Unterbringungsangebote - ähnlich dem Bärenwald Arbesbach, über den mein Kollege Benedikt Narodoslawsky im aktuellen FALTER geschrieben hat.

Endgültig entscheidet ein Verwaltungsgericht am 25. Mai über Gaias Schicksal. Doch eine Frage wird schon jetzt schlagend: Wie viel darf Artenschutz riskieren? Oder treffender: Wie viel wollen wir für Artenschutz riskieren, wie viel Sicherheitsgefühl dafür aufgeben, eine Umwelt zu bewahren, in die der Mensch bereits massiv eingegriffen hat?

Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass dieser Fall eine Tragödie ist. Und es sind auch nicht nur Braunbären, die menschlichen Aktivitäten in die Quere kommen: Auch den Wolf will man vielerorts nicht haben. In Tirol und der Steiermark werden einzelne Tiere immer wieder zum Abschuss freigegeben. Das ist einerseits nicht zielführend, andererseits auch illegal: Der Schutz dieser vom Aussterben bedrohten Arten – zu denen Wölfe und Braunbären nunmal zählen – ist nach der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie verbindlich.

Da ist er wieder: Der mitunter chaotische Umgang mit dem Wilden, Unberechenbaren. Ein paar Ergänzungen aus Artenschutzsicht zu dieser emotionalen Debatte:

  • Bär und Wolf gab es in Mitteleuropa schon vor dem Menschen und vor allem, bevor der Mensch begann, so stark wie heute in seine Umwelt einzugreifen. Das eigentlich Schöne an der aktuellen Situation: Große Säugetiere, deren Herdengrößen und Anzahl Menschen in der Vergangenheit stark dezimiert hatten, kommen wieder zurück. Eine Erfolgsgeschichte für den Artenschutz. 

  • Wölfe haben zudem – unter den richtigen Umständen – eine wichtige Rolle im Ökosystem. Sie regulieren Herdengrößen von Wildtieren wie Rehen, erschnüffeln kranke Wildtiere, bevor der Mensch diese bemerkt, und stürzen sich dann auf die schwachen Glieder der Herde. So verhindern sie womöglich den Ausbruch einer Seuche. 

  • Dass sie dabei manchmal auch Weidetiere anvisieren, ist kein Geheimnis. Nur hält sich das in Relation gesehen in Grenzen: 2022 töteten Wölfe laut "Österreichzentrum Bär Wolf Luchs" 861 Weidetiere in Österreich. Im Vergleich: Unwetter oder Steinschlag töteten 5.000, so der WWF. Die Tiere deshalb zu töten? Eigentlich keine Option. "Außer sie verursachen ernsthafte wirtschaftliche Schäden, und es gibt keine anderen Lösungen, um diese abzuwehren", das erklärte auch Daniel Ennöckl, Professor für Klima- und Umweltrecht, kürzlich im FALTER.

  • Andere Lösungen? Das sind zum Beispiel Herdenschutzhunde, die Schafe vor allem im gebirgigen Gelände schützen. Das Wissen über den Umgang mit den Tieren gibt es vielerorts nicht mehr - und benötigt vor allem Zeit, finanzielle Mittel. Landwirt:innen, die ohnehin oft schon prekär arbeiten, sollen auch noch für Elektrozäune aufkommen, diesen alle paar Tage umstecken. Diese Unterstützung steht ihnen zu. 


Wir haben Wildtiere in ihren Lebensräumen so zurückgedrängt, unsere Siedlungen oft so nah an den Rückzugsorten dieser Tiere gebaut, dass die Berührungspunkte zunehmen. Wildnis im engsten Sinne gibt es deshalb eigentlich kaum mehr. In Österreich gibt es lediglich zwei Wildnisgebiete, die Gegend des niederösterreichischen Dürrenstein und die Sulzbachtäler in Salzburg.

Bitterböse liest sich deshalb auch diese Nachricht: Im April hat das EU-Parlament ein Gesetz zur Bekämpfung der weltweiten Entwaldung angenommen. Doch in einem Kommentar in der Fachzeitschrift Science schreiben Expert:innen, dass selbst der Schutz der am strengsten geschützten Urwälder nicht klappt, auch diese Flächen abnehmen, illegal gerodet werden. Etwa in Rumänien oder Schweden. 

Und so stellt sich die Frage: Wollen wir das bisschen Wildnis, das noch bleibt, das ein Rückzugsort für viele Tiere und Pflanzen ist, ein Reservoir, das Kohlenstoff speichert und als Schutzwald auch den Menschen vor Naturkatastrophen bewahrt, aufs Spiel setzen? Vielleicht braucht Österreich statt eines Auto-, eines Versöhnungs-, eines Inflationsgipfels demnächst einen Wildnisgipfel.

Katharina Kropshofer

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