Mein Essen im Mistkübel - FALTER.natur #112

Benedikt Narodoslawsky
Versendet am 26.05.2023

Ich erinnere mich noch gut an eine Szene aus dem Film "We Feed the World", den der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer im Jahr 2005 herausbrachte: Ein LKW vollbeladen mit noch genießbarem Gebäck fährt in eine Halle und kippt das Essen in den Müll. Dazu blendet Wagenhofer still einen Satz ein: "In Wien wird täglich jene Menge an Brot als Retourware vernichtet, mit der die zweitgrößte Stadt Österreichs – Graz – versorgt werden kann." Mir ging das damals durch Mark und Bein.

Schon vor der Inflation war jede noch genießbare Semmel im Müll eine Schande. Jetzt, wo die Lebensmittelpreise rasch ansteigen und arme Menschen dadurch immer stärker unter Druck kommen, wird jede weggeworfene Brotscheibe zur Sünde. Lebensmittelverschwendung hat in den vergangenen Tagen zurecht viel Aufmerksamkeit bekommen. Das liegt zum einen am ORF, der seinen alljährlichen Umwelt-Schwerpunkt Mutter Erde heuer dem Thema "Klima und Ernährung" gewidmet hat. Und zum anderen am Abfallwirtschaftsgesetz, das ÖVP, Grüne und Neos (gegen die Stimmen von SPÖ und FPÖ) am Mittwoch änderten. Der Handel muss dadurch ab nächstem Frühjahr bekanntgeben, wie viel Lebensmittel er wegwirft oder spendet. Das soll mehr Transparenz schaffen und Druck auf die Geschäfte ausüben, nicht leichtfertig Lebensmittel zu entsorgen.

Die Dimension der Lebensmittelverschwendung ist nämlich erheblich. Die Naturschutz-Organisation WWF hat den heutigen Tag zum "Tag der Lebensmittelrettung" gemacht. Der Grund: Alle Lebensmittel, die von Jahresbeginn bis zum 26. Mai produziert wurden, sahen der Statistik zufolge weder Zähne noch Zunge. "Das Datum errechnet sich aus der massiven Verschwendung von rund 40 Prozent der weltweit hergestellten Lebensmittel, die vom Feld bis zum Teller verloren gehen", erläutert der WWF und präsentiert einen 5-Punkte-Plan, mit der die Politik das Problem in den Griff bekommen könnte.

Lebensmittelverschwendung ist nicht nur ein soziales Problem, sondern auch eines für die Natur. Die Landwirtschaft krallt sich immer mehr Platz und entreißt damit Tieren und Pflanzen Lebensraum. Ein Drittel der globalen Landfläche nützt der Mensch bereits für Ackerbau und Viehzucht. Das macht die Landwirtschaft zu einem der stärksten Treiber des weltweiten Artensterbens. Erst jüngst erlaubte die EU Landwirt:innen, im Sinne der Ernährungssicherheit Brachen dem Anbau zu opfern. Für viele Arten sind diese die letzten Rückzugsräume zwischen Ackerwüsten. Wie eine aktuelle Analyse von Global 2000 und Birdlife ergab, half das Umackern der Brachen der Ernährungssicherheit so gut wie gar nicht, schädigte aber die heimische Flora und Fauna. Würden wir Nahrungsmittel nicht so achtlos verschwenden, hätten wir über solche Maßnahmen gar nicht erst zu diskutieren brauchen und könnten der Natur sogar große Flächen zurückgeben.

Auch fürs Klima spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Allein in Österreich entfällt ein Zehntel der Emissionen auf diesen Sektor. Laut einer neuen Studie machen Lebensmittelabfälle die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen in der Lebensmittelproduktion aus.

Die Recherche für diesen Newsletter hat mich betroffen gemacht. Denn ich bin einer dieser Verschwender – und damit Teil dieses großen Problems. Im Supermarkt halte ich nach der besten Ware Ausschau, drücke auf Gurken herum, und lasse sie im Regal liegen, wenn sie mir zu weich sind. Äpfel mit Depschern haben schlechte Chancen, ins Körberl zu kommen, letscherten Salat kaufe ich nur im Notfall. Und wenn ich Zuhause Joghurt aus dem Kühlschrank hole und sehe, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits erreicht ist, beäuge ich es kritisch. Ist es mehr als drei Tage drüber, bin ich schon extrem skeptisch. Bei meinen Kindern bin ich noch vorsichtiger. Horrorgeschichten wie jene vom tödlichen Apfelmus können einem schließlich den Appetit verderben. Dadurch landet auch in meinem Mistkübel zuviel Essen, das noch genießbar wäre – auch wenn ich dabei jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekomme.

Laut einem Experiment, das Greenpeace Mitte Mai veröffentlicht hat, sind meine Zweifel nahezu unbegründet. Die Umwelt-NGO ließ im Labor der Lebensmittelversuchsanstalt testen, wie lange gefärbte, hartgekochte Eier, frische Eier, Selchroller, Striezel, Schwarzbrot und Frischkäse noch über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus genießbar bleiben, wenn man sie so lagert, wie auf der Verpackung empfohlen.

Was schätzen Sie, wie viele Tage es waren?

Sämtliche Lebensmittel waren zwei Wochen nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums einwandfrei genießbar, fünf von sechs sogar zwei Monate über dem Datum. Nur die hart gekochten Eier waren nach einem Monat durchgefallen.

Ich nehme mir jedenfalls vor, künftig auch abgelaufenes Joghurt mit angedepschten Äpfeln in meine Müsli-Schüssel zur rühren. Schmeckt wahrscheinlich eh so wie immer. Mahlzeit!

Benedikt Narodoslawsky

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Umweltbildung

Südwind – der Verein für Entwicklungspolitik und globale Gerechtigkeit – will die Lebensmittelverschwendung mithilfe von Schulen eindämmen und hat mit anderen europäischen Organisationen die Initiative Food Rescue ins Leben gerufen. "Im Mittelpunkt von Food Rescue steht die Entwicklung innovativer Unterrichtsmodule für Schüler:innen von acht bis zwölf Jahren, die das Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung schärfen und fächerübergreifende, umweltbezogene Fertigkeiten fördern", erläutert Südwind. Falls Sie das Projekt interessiert, erfahren Sie hier mehr.


Klimajournalismus

Shoutout an meine Kollegin Katharina Kropshofer! Sie hat das Netzwerk Klimajournalismus mitbegründet, das diese Woche seinen vorläufigen Höhepunkt feierte: Der Klimakodex für Medien, den Kropshofer mit vielen engagierten Kolleg:innen miterstellt hat, wurde öffentlich präsentiert. Er soll den Redaktionen als Leitlinie für eine angemessene, klare und konstruktive Klimaberichterstattung dienen, wird unter anderem von Reporter ohne Grenzen unterstützt und vom Presserat gelobt. Mehrere Medien haben ihn bereits übernommen, darunter die Nachrichtenagentur APA, die Gratiszeitung Heute und das Monatsmagazin Datum. Der Standard hat darüber ausführlich berichtet.

Im Falter kommentiert Kropshofer passend dazu den Zustand der Medien in der Klimakrise und stellt dabei eine zentrale Frage: "Sind wir gut genug?" Wie vielfältig man die Auswirkungen der Erderhitzung aufzeigen kann, beweist sie in der aktuellen Ausgabe gleich selbst. Hier schreibt Kropshofer etwa über die Zukunft des grünen Rasens in der Klimakrise. Und hier über die Donau und andere Gewässer im Hitzestress.


Famose Vögel

Mein Kollege Klaus Nüchtern rezensiert als preisgekrönter Literaturkritiker nicht nur Bücher, sondern als FALTER-Vogel-Wart auch Vögel. Im FALTER.morgen-Newsletter (den Sie hier abonnieren können) stellte er regelmäßig den Vogel der Woche vor, seine Sammlung hat er nun zwischen zwei Buchdeckel gepackt und "Famose Vögel" auf die Titelseite geschrieben (hier erhältlich).

Weil das Buch eine ordentliche Promo verdient und Nüchtern außerdem ein grandioser Interviewpartner ist, habe ich ihn zu seinen Vogelbeobachtungen befragt. Er beschreibt darin "ADHSler wie das winzige Wintergoldhähnchen", redet über die Mönchsgrasmücke, die klingt "wie eine Amsel auf Speed" und schildert, wie schwer es ist, einen Pirol zu fotografieren: "Er hält sich vorzugsweise in den Kronen von Laubbäumen in Auwäldern auf und ist sehr scheu. Man steht dann buchstäblich im Wald und weiß: Der sitzt da jetzt zehn oder 15 Meter entfernt, pfeift sich eins, lässt sich aber ums Verrecken nicht blicken."

Mein Interview mit Nüchtern lesen Sie hier. Und wenn Sie Ornithologe sind, empfehle ich Ihnen, das aktuelle Heft zu kaufen. Wir haben zum Interview auch ein – für mich – sauschweres Vogel-Rätsel auf eine Doppelseite gepresst.


Faszination Natur

Um jetzt endgültig Ihre Lust auf Vogelbeobachtungen zu wecken, präsentiere ich Ihnen noch ein Video, das zeigt, wie ein Viktoria-Paradiesvogel-Männchen bei der Anbahnung völlig crazy vor einem Weibchen herumtanzt, bis es diesem zu peinlich wird und davonfliegt.

Wenn es mit Vögeln nix wird, dann interessiert Sie vielleicht eher, wie eine Seegurke kackt, eine Löwin bei der Anbahnung versagt oder ein grandios getarnter Oktopus von einem noch besser getarnten Rochen angegriffen wird. Dazu klicken Sie bitte hier (Seegurke), hier (Löwin) und hier (Oktopus versus Rochen).


Empfehlung

Wer wie ich halbblind durch die Natur läuft und sich dafür interessiert, wie diese eigenartigen gelben und weißen Blümlein heißen, die jetzt allerorten aus dem Boden sprießen (Spoiler: "Löwenzahn" und "Gänseblümchen"), dem empfehle ich die kostenlose App "Seek". Sie hat mein Leben wahnsinnig bereichert, ich kann mittlerweile einen Ehrenpreis von einem Spitzahorn unterscheiden, habe eine Ahnung bekommen, wie ein Dolden-Milchstern aussieht und trainiere mir gerade den Gewöhnlichen Reiherschnabel an. Das Ding funktioniert auch mit Tieren (zB Schmetterlingen und Käfern).

Schöner Nebeneffekt: Mit der Bestimmungs-App kann man nicht nur selbst die Natur kennenlernen, sondern auch der Wissenschaft helfen. Wie das geht, habe ich vor etwa einem Monat hier beschrieben.


Raus in den Regen

Unser Tierkolumnist Peter Iwaniewicz schickte seine Kolumne ausgerechnet aus der italienischen Region Emilia-Romagna, die in den vergangenen Tagen völlig überflutet wurde. Die Regengüsse inspirierten Iwaniewicz dazu, mal übers Wetter zu schreiben. Er verrät dabei seinen Trick, wie er seinen Mitmenschen sogar dann Lust auf Naturführungen macht, wenn es draußen pritschelt: "Nicht nur auf Schönwettertiere fokussieren, sondern die Chance nutzen, jene tierischen Freunde zu sehen, die 100 Prozent Luftfeuchtigkeit bevorzugen. Um es als Sinnspruch zu formulieren: Glück ist, wenn man auf Ausflügen bei Schönwetter Insekten bewundern kann und bei Regen viele verschiedene Schneckenarten findet."

Na, wenn selbst Schnecken im Regen keine Lust aufs Rausgehen machen, weiß ich auch nicht weiter! Dann hilft wohl nur noch ein FALTER-Abo, das holt Sie hier raus.


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