Warum „Booster-Impfungen“ nie und nimmer Wellenbrecher sind
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 498
Doch, die Impfung bleibt essentiell, erklärt Epidemiologe Robert Zangerle heute. Es fehlt jedoch an Maßnahmen, die es braucht, um eine kräftige 4. Welle mit allen Folgen abzufangen. Propaganda gibt es genug, Initiativen zu wenig. Das gilt national, aber auch global. A.T.
»Vor zwei Monaten wurde eine Seuchenkolumne so beendet: „Anders als in Asien sei die Maske in europäischen Ländern kein Teil der Kultur, sagt Bundeskanzler Sebastian Kurz. Offenbar stören Masken die Normalität von Bundeskanzler Kurz. Meine Normalität wird von Sätzen wie ,Die Pandemie finde in Wellen mit saisonalen Höhepunkten statt, die steigenden Zahlen im Herbst hätten nichts mit dem Sozialverhalten der Menschen im Juli zu tun‘ (O-Ton Kurz) gestört. Das ist eine dreiste und gefährliche Verzerrung von Fakten. So können wir den Wettlauf Delta vs. Impfungen nicht gewinnen.“
Ich konnte nicht ahnen, dass das schwarze Vorarlberg unreflektiert den türkisen PR-Sprech, das Verhalten im Sommer habe nichts mit den Zahlen im Herbst zu tun, zur Grundlage seiner Sommerstrategie macht. Die Vorarlberger haben tatsächlich ihre Pläne, die Impfungen im Sommer zurückzufahren, durchgezogen, um dann im späten Herbst die Strukturen wieder hochzufahren. „Die Haupt-Impfstraßen in Bregenz und Nenzing werden ab November in regelmäßigen Abständen bis ins Frühjahr 2022 geöffnet. Zusätzlich werden die kleineren Impfstraßen, wie etwa in Bezau und im Kleinwalsertal geöffnet. ,Ich bedanke mich an dieser Stelle bereits bei allen Ärzt:innen und Helfer:innen, die sich bereits wieder bereit erklärt haben in den Impfstraßen zu helfen‘, freut sich die Gesundheitslandesrätin Martin Rüscher“ laut Vorarlberg Online.
Das sei maßlos übertrieben? Keineswegs. Mit sichtlichem Stolz haben sie die Schließung der Impfstraßen verkündet und haben das restliche spärliche Impfen vollständig den Hausärzten übergeben. Genaueres ist aber nie an die Öffentlichkeit gedrungen. Ach, jetzt werde ich ungerecht, schließlich hat Vorarlberg seit Mitte Juli einen Impfbus. „Der mobile CoV-Impfbus des Landes wird von der Bevölkerung gut angenommen.“ Wieso aber gibt es nicht einen 2. und einen 3. Impfbus? Weil das eine Entscheidung gegen die Intuition einer alemannischen Gesundheitsökonomie gewesen wäre? Bei ähnlichen Fragestellungen habe ich in Vorlesungen und Seminaren immer Vorarlberger Studentinnen und Studenten angesprochen, um zu fragen, wieso das nicht gemacht werde, allein um die Antwort „zu teuer“ zu provozieren. Um dann zu erklären, dass Gesundheitsökonomie nichts mit Betriebswirtschaft eines Krankenhauses oder der niedergelassenen Praxen zu tun hat. Dieses Bedienen eines Klischees hat didaktisch verdammt gut funktioniert. Kurz freute ich mich, dass ich mich vielleicht in meiner doch zu pessimistischen Einschätzung geirrt habe, als die Aktion am 14. August (2. Impfung am 4. September) für Jugendliche & Lehrer im Bregenzer Impfzentrum bekannt wurde. Lenkt Vorarlberg doch ein? Leider nein, die angesprochene Aktion ist ein dürftiger Ausreißer nach oben.

Ein flüchtiger Blick auf den zeitlichen Ablauf der Impfungen anhand der ORF-Impfkarte führt zu einer falschen Interpretation, weil nicht berücksichtigt wird, wie viele Menschen schon geimpft sind. Österreichweit sind 56,15 % vollimmunisiert, in Vorarlberg 56,33 %. In keiner einzigen Altersgruppe stellt Vorarlberg die meisten Vollimmunisierten.

Es gibt in Vorarlberg auch keine Gemeinde, die zu 70% oder mehr vollimmunisiert ist. Die erste Gemeinde, die diesen Wert in Österreich überschritten hat, war das Tiroler Galtür. Die Nachbargemeinde aus meiner Kindheit, das Vorarlberger Gaschurn kommt auf 57,7%. Die Gemeinde Umhausen in Tirol und Kuchl in Salzburg, beide bekannt-berüchtigt durch „Ausreisetestungen“ haben keine Fortschritte erzielt, die Impfrate liegt immer noch deutlich unter 50%. „Don’t be a schmuck“ möchte man vor allem den dortigen Bürgermeistern zurufen. Lesen Sie, was Arnold Schwarzenegger dazu zu sagen hat! Die höchsten Impfraten findet man im Burgenland, nördlichen und östlichen Niederösterreich und im Paznauntal, wo Ischgl dem dumpfen Argument, viele seien bereits angesteckt und brauchen deshalb keine Impfung, immerhin die Impfrate von 65% entgegenhält.

Ist die Corona-Impfung also nicht mehr der Gamechanger im Kampf gegen die Pandemie angesichts der verbreiteten Impfunwilligkeit und der Virusvariante Delta? Doch, die Impfung bleibt essenziell, wäre in den nächsten Monaten ohne begleitende nicht-pharmazeutische Interventionen („Maßnahmen“) jedoch völlig unzureichend, um eine kräftige 4. Welle mit allen Folgen abzufangen. Parteien und Bundesländer übergreifend gilt das übergeordnete Ziel der hiesigen Pandemiebekämpfung: das Gesundheitssystem nicht überlasten. So machen wir das eben, es wurde immer in Kauf genommen, dass Menschen schwer erkranken und sterben, solange die Krankenhäuser irgendwie klarkommen. Vizekanzler Werner Kogler lobte im ORF Sommergespräch 2021 die Regierung und sich selber für die miserable Covid Politik im Herbst 2020. Eh alles gut gegangen? Das historische Ausmaß an Übersterblichkeit im November und Dezember 2020 wird eiskalt revisionistisch abgearbeitet.
Das Gesundheitssystem gerät besonders leicht erneut unter Druck, wenn die Impfquote in den sognannten „Risikogruppen“ unzureichend ist, wie es im Augenblick (noch?) weitgehend zutrifft. Österreichs Verantwortliche trotz Einverständnis über das „konzeptlose Köchelkonzept“ reagieren auf die momentane Situation und den dräuenden Herbst unterschiedlich. „,Der Schutz der vulnerablen Personen hat im Vordergrund zu stehen‘, bekräftigt Rüscher. Deshalb werde ab Oktober/November den etwa 20.000 bis 30.000 Personen im Spital- und Gesundheitsbereich die Möglichkeit einer kostenlosen Booster-Impfung angeboten.“ Wellenbrechen wird das aber nicht, die Welle läuft da schon auf Touren. Stadtrat Peter Hacker aus Wien hingegen hält es für möglich, dass im Herbst die Intensivstationen Wiens so ausgelastet werden könnten wie im Frühjahr (Vorarlberg hatte das im November): „Das Worst-Case-Szenario ist, dass die vierte Welle im Spital so einschlägt wie die dritte Welle. Wir rechnen damit, dass wir wieder unser ganzes Neun-Stufen-System brauchen werden“.
Vergessen wir nicht, dass es insgesamt immer noch mehr Menschen ohne Immunität als bereits Infizierte gibt. Dazu gibt es in Österreich keine Daten, es wurden keine Seroprävalenz-Studien (Überprüfung mit Antikörpern) mehr durchgeführt, ob Menschen genesen/immun sind, wie im letzten Herbst. Lediglich bei den Altersgruppen ab 80 Jahre sind vermutlich bisher etwas mehr Menschen infiziert worden als ohne Immunität geblieben. Wenn also ein großer Teil der momentan nicht immunen Menschen infiziert würde, dann wäre die zu erwartende Gesamt-Krankheitslast ähnlich groß wie die gesamte Krankheitslast im bisherigen Pandemieverlauf. Bei jüngeren Menschen sind Langzeitfolgen einer Infektion besonders relevant; bei älteren Menschen sind es vor allem mögliche akute Folgen einer Infektion, inklusive Krankenhausaufnahmen und Todesfällen. Wenn also ein großer Teil der noch nicht immunen Menschen innerhalb weniger Monate infiziert würde, wird die Belastung des Gesundheitswesens wieder groß werden, auch wenn es jetzt von allen Seiten tönt, dass sowas nicht mehr passieren kann. Diese Überlegung zeigt aber, wie wichtig die weitere Erhöhung der Impfabdeckung ist. Mit jeder Person, die geimpft wird, reduziert sich die potentielle Krankheitslast. Eine forcierte Impfung der Jugendlichen könnte helfen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und eventuelle Fälle von Long Covid zu verhindern. Klingt aber sehr unrealistisch, auch wenn Impfen Punk gleichgesetzt wird.
Dass Österreich im europäischen Vergleich zurückfallen wird, war vor 2 Monaten absehbar, man hat weder rechtzeitig noch adäquat entgegengesteuert (vom Negativ-Modell Vorarlberg ganz abgesehen). Die Impfkampagne war bis zum Überdruss politisiert, immer mit Wahlen im Auge kümmerte man sich vorrangig um die Impfwilligen. Das ist nicht Public Health.

Österreich hat bisher nicht nur zu wenig geimpft, das schier unlösbare Problem scheint die derzeit niedrige Impfrate zu sein. Es geht momentan (fast) nichts mehr weiter. In den ersten 16 Augusttagen wurden 91.226 Menschen teilgeimpft und 26.545 erhielten den Einmalimpfstoff von Janssen, zusammen sind das 1,3% der Bevölkerung. Selbst wenn man diese Rate bis Anfang Oktober verdoppelt, wir bleiben zurück, deutlich unter 70%. Wieso ist das kein Grund, die Gesellschaft mit Information und Diskussion zu fluten, von oben nach unten und von unten nach oben?

Mit der jetzigen ethisch fragwürdigen Laissez-faire-Politik nimmt man in Kauf, dass sich das Virus ziemlich ungehindert in der nicht geimpften Bevölkerung verbreiten kann. Dazu zählen nicht nur jene Menschen, die sich (noch) nicht impfen lassen wollen, sondern auch die Million Kinder unter 12 Jahren, für die noch kein Impfstoff zugelassen ist, und jene ungefähr 200 000 Menschen, die wegen einer Krebsbehandlung oder nach einer Transplantation ein geschwächtes Immunsystem haben, und natürlich dringlich einer dritten Impfung bedürfen. Trotzdem werden einige von ihnen zu wenig Abwehrstoffe bilden.
Zum Stopfen von „Impflöchern“, im englischen pockets of unvaccinated braucht es ein gleichzeitiges Nebeneinander von vielfältigen Impfmöglichkeiten. Einfache Impfmöglichkeiten ohne Termin, direkt in der Nachbarschaft, beim Einkaufen, wo auch immer. Die Jugendlichen und Lehrer, die sich am 14. August in Bregenz impfen lassen konnten, mussten sich für den Termin im Impfzentrum Bregenz (sehr nah für Jugendliche aus Gaschurn und Schröcken!) anmelden. Für diese mangelnde Flexibilität sind auch zentrale Vereinbarungen mitverantwortlich, die ein Monopol über das Ausliefern und das üppig dotierte Auftauen der Impfstoffe durch den Großhandel schufen. Das schafft auch eine unnötige Herausforderung von Lieferungen an Hausärzte. Wieso wird das nie hinterfragt?

Dieses angemessene Nebeneinander von Impfmöglichkeiten ist in keinem Bundeland adäquat etabliert. Ärgerlich auch das Bundesland Tirol, das es verabsäumt hat, im Bezirk Schwaz kontinuierlich mit Impfungen nachzubessern. Man hat sich nach der sehr erfolgreichen „Impf-Hauruck Aktion“ Mitte März und Mitte April durch EU, Bund, Land und BioNTech/Pfizer offenbar in Sicherheit gewiegt. Die Synergie von nicht-pharmazeutischen Interventionen („Maßnahmen“) mit der Durchimpfung wurde zu wenig bedacht. Im „Sommer wie damals“ ist Impfung alleine, auch bei Anwendung der 3-G Regel, unzureichend, um das Virus unter Kontrolle zu halten. Einen Vorsprung hat man ganz schön verspielt, jetzt ärgert man sich dort mit einem Cluster unter dem Personal eines Hotels, mehr davon vermutlich nächste Woche.
Während in Afrika aktuell um die vier Prozent der Menschen zumindest teilgeimpft sind – aufgrund von Impfstoffmangel –, redet man in Österreich darüber, ob ein Wienerschnitzel als Impfanreiz taugt und ob es vertretbar wäre, einen Selbstbehalt für Tests von jenen Menschen bezahlen zu lassen, die sie vorlegen müssen: freiwillig Ungeimpfte.

Aber solange die weltweite Impfkampagne durch Impfstoffknappheit schleppend läuft, hat das Virus weiterhin global Chancen, sich zu verbreiten und zu mutieren. Auch hier müssen wir auf ein Quäntchen Glück setzen, dass keine noch bedrohlicheren Varianten entstehen. Sich darauf vorzubereiten, wäre besser. Dazu gehörte es vor allem, dass die Welt (einschließlich Afrika!) in die Lage versetzt wird, ausreichend Impfstoff für alle herzustellen, Anleitungen dazu gäbe es . Die Regierungen der reichen Länder interessiert das aber wenig. Wenn sie’s nur aushält, die WHO.« R. Z.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher