Das Schelfeis und meine Liebe zu den Leserinnen
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 977

Ross-Schelfeiskante in der Antarktis Foto: Hannes Grobe, Wikipedia
Ich liebe meine Leserinnen. Meine Leser auch.
Wirklich wahr, auch wenn der Chatsatz „Ich liebe meinen Kanzler“ solche Gefühlsdarbietungen scheinbar für immer ruiniert hat, bleibe ich dabei. Ich meine das ganz und gar unironisch. Man muss die Emotionen vor ihren Verderbern retten.
Ich zitiere hier viel zu wenige Briefe. War mein Leben lang skeptisch gegenüber Leserbriefen; verweigerte deshalb – mit der Begründung Scheinpartizipation, simulierte Augenhöhe etcetera – jahrelang ihren Abdruck im Falter (sechs Jahre nach Erscheinen war ich breitgeschlagen, und gab es die ersten).
Was ich hier bekomme, ist etwas anderes. Es sind persönlich an mich gerichtete Schreiben, die mich meist belehren, oft erfreuen, manchmal beschämen. Ein ganz geringer Prozentsatz schmäht mich, aber das meist auch noch auf einem Niveau, für das ich mich nicht zu genieren brauche.
Danke.
Ich kann das nicht alles bringen, aber es bringt Licht in meine Tage. Da mit dem Erreichen der tausendsten Seuchenkolumne sich wie angekündigt etwas an deren Erscheinungsform ändern wird, ergeben sich vielleicht neue Dialogformen, zumal mich der weiland Kater bisher mit Meldungen aus dem Jenseits im Stich lässt. Ich bin allerdings sensibilisiert und warte auf seine Botschaften.
Derweil denke ich mit leichtem Bangen an den Tausender und freue mich, dass die Zahl der Abonnentinnen und Abonnenten täglich steigt. Die Frequenz wird sich nicht beibehalten lassen, denn in diesem Tempo schreibe ich jährlich sechs Bücher im Umfang von „Anstandslos“, mindestens. Das geht auf die Substanz, wer soll das alles lesen, und ich selber komme vor lauter Schreiben kaum mehr zum Lesen.
Zur Begründung meiner Liebe: Vorgestern brachte ich ein Gedicht. Das erste Mal seit Jahrzehnten hatte ich einen Zug verpasst. Nicht, weil ich zu spät kam, sondern weil ich dasaß und in die andere Richtung schaute, während er still und leise vor mir, also hinter mir anhielt und gleich wieder weiterfuhr. Das Gefühl von Versagen und Erniedrigung fand ich aufgefangen, als ich gleich darauf, im nächsten Zug sitzend, in der New York Review of Books ein mir schön scheinendes Gedicht fand.
Es stammt vom US-amerikanischen Romanisten Richard Sieburth, geboren im gleichen Jahr wie ich, 1949, Übersetzer französischer Literatur, zuletzt der späten Baudelaire-Fragmente, selbst Dichter, aber ohne eigene Lyrik-Buchpublikation (bis auf die Französischkenntnisse lauter Verbindendes). Ich setzte also sein Gedicht her, und pappte geschwind eine Prosaübersetzung dazu.
Early Alzheimer’s
A shelf of memory calving into the sea
like an Antarctic glacier on TV
these scenes of climate change
heightening the senescence
we try to fathom day by day
as yet another point of reference
quietly crashes away
Vom frühen Alzheimer
Ein Regal voll Gedächtnis kalbt in die See
wie ein antarktischer Gletscher im TV
diese Klimakrisen-Szenen
spitzen die Vergreisung zu
die wir täglich auszuloten versuchen
während ein weiterer Bezugspunkt
still hinwegbricht
Daraufhin schrieb mir Silvia Franke: „Danke für das eindrucksvolle Gedicht. Zur Übersetzung: hier ist offensichtlich das Schelfeis gemeint, kein Regal https://en.wikipedia.org/wiki/Ice_shelf. Aber Regal passt auch gut für Erinnerungen“; und Andrea Stockenhuber gab nicht nur ihr Alter an (66), sie schlug vor: „Lieber Herr Thurnher, was hielten Sie von: ,eine Eisplatte aus meinem Gedächtnis‘, klingt schöner(?) als Regal, finde ich, wegen des Antarktis-Bezuges, Shelf ice! Aber gutes Gedicht!“
Die beiden Damen haben selbstverständlich Recht, das Regal geht nicht (mir stand es als voller Bücher vor Augen und hinderte mich daran, das Schelfeis zu sehen). Ich setzte mich hin und versuchte eine verbesserte, zudem wie das Original gereimte Übersetzung, die das Eisbild mit dem Regal kombiniert (den Doppelsinn von „shelf“ derfange ich nicht, und noch weniger das drinsteckende „self“, das da ins Meer des Vergessens platscht).
Gruß vom Alzheimer
Ein Tiefkühlfach voll Gedächtnis kalbt ins Meer
antarktischem TV-Gletscher hinterher
diese Klimakrisen-Szenen
lassen uns schneller vergreisen
hilflos erkunden wir es Tag für Tag
indessen bricht still und leise
der nächste Bezugspunkt hinab
So scheint es mir besser; die unreinen Reime erhalten die aufs erste prosaische Anmutung des Gedichts. Übersetzungen sind selten gut, immer zweifelhaft. Das macht sie zum Objekt der Begierde, die Arbeit an ihnen hört nie auf. Danke für Hilfe und Ansporn.
Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.
Im Sinn des Maskenfalls habe ich übrigens mein stehendes Seuchenschlusswort neu formuliert (native speakers aller Länder, feilet daran!):
Distance preferably, hands when possible, masks when needed, always considerate! Ihr Armin Thurnher