Notizen zu Marxismus und Bablerismus
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1022

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Marx war bekanntlich kein Marxist; das wissen wir von seinem Freund und Propagator Friedrich Engels. Marx war ein philosophischer Autor, der einerseits aufdecken wollte, nach welchen Gesetzen eine Gesellschaft funktioniert (eben nach jenen der Verwertung des Kapitals); und die die darin beschlossenen Ungerechtigkeiten bekämpfte, politisch und zuerst publizistisch.
Seine ökonomische Theorie hat in Teilen Bestand, in anderen nicht. Journalisten, die reflexartig in das Geheul einstimmen, Marxist zu sein bedeute etwas Altvorderes, Überholtes, ja Unmodernes, haben naturgemäß keine Ahnung, welche Rolle der Autor Marx in der Beförderung des modernen Denkens spielte.
Zugleich werden jene am lautesten, die Marx mit dem Hinweis auf jene diskreditieren, die in seinem Namen Untaten begingen; das ist etwa so schlau, als würde man Jesus Christus die Untaten der katholischen Kirche anlasten und jeden, der sich heute als Christ bezeichnet, einen irregleiteten Inquisitor, Folterknecht, Judenmörder und Hexenverbrenner nennen.
Ja, es gab schlimmste Marxisten in der Geschichte, von Josef Stalin und Pol Pot abwärts. Und die deutsch-österreichische Sozialdemokratie, welch Marx nach seinem Tod als politischen Rammbock gegen das kaiserliche Deutschland und die kapitalistische Unordnung einzusetzen gedachte, hat ihren schlechten Anteil daran. Sie stilisierte Marx zum unfehlbaren Monument seiner selbst, statt ihn als fehlbares Denksalz in den Wunden der Herrschenden zu erhalten.
Das Erbe von Marx ist vielfältiger als die meisten denken, es reicht von der Frankfurter Schule bis zu den Studentenprotesten, von Gramsci bis zu den Revolutionären Lateinamerikas, des Südens und des Ostens. Auch diese wollen für sich selbst betrachtet werden; was kann Marx etwa dafür, dass Che Guevara nicht nur ein Freiheitskämpfer, sondern auch ein Killer war, dass Fidel Castro nicht nur Kuba von einer ausbeuterischen Diktatur befreite, sondern seinerseits Oppositionelle einkerkerte?
Wenn einer also heute sagt, er sei Marxist, dann kann der Reflex lauten: steinigt ihn, heult gegen ihn an; oder man könnte fragen: was meinst du denn damit?
Der Kandidat Andreas Babler hat allerdings im Interview mit Armin Wolf bei der Beantwortung dieser Frage so kläglich versagt, dass man schon fragen muss, warum er sich nicht vorher überlegt hat, in welche Achillesferse ihn der böse Wolf denn theatralisch beißen würde, und die Marxferse ist in den Augen des militanten österreichischen Kleinbürgertums naturgemäß eine äußerst verwundbare. Könnte aber sein, dass die Babler-Marxismusfrage in der Politikberaterblase überschätzt wird.
Im Marxismus steckt Russenangst der benützbarsten Sorte; Antisemitismus übrigens auch (Marx war Jude, sein Vater ein zum Protestantismus übergetretener Jurist). Gegen die Russen haben „wir“ unsere Neutralität durchgesetzt, mit deren Hilfe wir alle weltanschaulichen Kanten mit Spitzendeckerln behängen konnten. Einen Marxisten wie Bruno Kreisky nahm das Land doch hin, allein seiner Manieren wegen und vielleicht auch, weil – wie der Spiegel im Nachruf bemerkte – „sein Marxismus immer ein wenig kokett“ war.
Der Antimarxismus der dummen Kerls betrachtet naturgemäß das Marxistische immer als das Revolutionäre schlechthin, mit Barrikaden, Musketen und Kanonen, ungeachtet dessen, dass Marx selbst Revolutionen und Umwälzungen ganz anders wahrnahm, wie jeder schon bei der Lektüre des Vorworts zu ersten Band des Kapitals merkt. Dort heißt es, „dass die jetzige Gesellschaft kein fester Krystall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist.“
Die Werttheorie von Marx, aus denen manche die Funktionsweise von allem in der menschlichen Gesellschaft ableiten wollten, hat sich immer meinem Verständnis entzogen, und so bin ich erleichtert, auf Wikipedia zu erfahren, dass sie als metaphysisches Wissen ohnehin obsolet ist. Was von ihm bleibt, ist außer der Kritik der Ökonomie jene Schärfe, mit der der Journalist Marx Evidenz der Ungerechtigkeit in Ausbeutungsverhältnissen zusammentrug, im British Museum exzerpierend, unermüdlich, monumental gebildet, bissig und zynisch formulierend. Meinen Journalismusstudenten habe ich stets einen Text von Marx zugemutet, als Beispiel strengen, aber gerechten Denkens und dafür, wie man Fakten nicht bloß anhäuft, sondern interpretiert.
Will nur sagen, es ist keine Schande, Marxist zu sein (ich nehme den Titel nicht für mich in Anspruch). Ja, unter jetzigen verzerrten Eigentumsverhältnissen und Kommunikationsverhältnissen kann ein archimedischer Punkt außerhalb der neoliberalen Erde, und sei er neomarxistisch, durchaus seinen politischen Reiz entfalten. Man muss ihn halt zu begründen wissen.
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Was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten: Distanz kann nicht schaden, halten Sie Ihre Impfungen up to date, Händewaschen ist nie falsch, benützen Sie Masken, wenn es sich empfiehlt, und bleiben Sie rücksichtsvoll.
Ihr Armin Thurnher