Wer ist ein Marxist?
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1024

SPÖ-Vorsitzkandidat Andreas Babler Foto APA Helmut Fohringer
Heute habe ich das Vergnügen, Ihnen einen aufklärenden Text von Alfred J. Noll anzubieten. Es geht um die Causa Prima der österreichischen Öffentlichkeit, welche naturgemäß nicht an der Antwort auf die selbstgestellte Frage interessiert ist, sondern daran, dem SPÖ-Vorsitzkandidaten Andreas Babler ein paar Tage vor der Abstimmung auf dem Sonderparteitag eins auszuwischen. Noll ist Anwalt (auch des Falter), einer der bestartikulierten Intellektuellen des Landes und Autor von so vielen Büchern, dass ihre Aufzählung den Platz übertreffen würde, den sein Essay einnimmt. A. T.
Wer ist ein „Marxist“?
Andreas Bablers Antworten haben die Gemüter erregt.
Von Alfred J. Noll
Die Ideen von Karl Marx (1818-1883) haben unbestreitbar einen großen Einfluss auf die politischen Bewegungen der letzten 150 Jahre ausgeübt. Die Frage nach „dem Marxismus“ hat darin ihre Ursache und ist berechtigt. Bis heute kennzeichnen politische Parteien und Gruppierungen sich selbst in Hinsicht auf den Marxismus, entweder indem sie ihre Zugehörigkeit oder ihre Ablehnung betonen.
In der politischen Praxis und in den gängigen Darstellung des Marxismus hat nun gerade die Verbindung von theoretisch-wissenschaftlichem Beitrag und politischer Präsenz sowohl bei Anhängern als auch bei Kritikern besonderes Gewicht bekommen. Das ging dann so weit, dass theoretische Konzeptionen, die mit den Vorgaben führender Staatsparteien und Führer harmonierten, automatisch als „marxistisch“ charakterisiert wurden, während von der Gegenseite theoretische Konzeptionen, die auch nur in irgendeiner Weise die Verbreitung „marxistischer“ politischer Positionen fördern könnten, politisch und auch militärisch bekämpft wurden.
Die unreflektierte Ineinssetzung von Theorie und Politik, die sowohl im Umfeld des Marxismus und insbesondere in den Ländern des sog. „realen Sozialismus“ als auch bei den entschiedenen Gegnern des Marxismus nach 1945 stattfand, hatte schwerwiegende Folgen. Auf dem Feld der Theorie wurde das Werk von Marx zu einer Art Steinbruch, aus dem die politischen Anhänger den Anspruch ableiteten, schon ein Zitat von Marx gewähre eine wissenschaftliche Wahrheit, die in jedem Bereich gültig sei; auf der anderen Seite führte die politische Aversion gegen den Marxismus oft dazu, dem umfangreichen wissenschaftlichen Werk von Marx jeglichen Wert abzusprechen. Auf beiden Seiten fehlte allzu oft eine ernsthafte und rigorose Differenzierung (nicht Trennung!) zwischen den philosophisch-wissenschaftlichen und den rein politisch-propagandistischen Werken von Marx.
Diese Verflachung des Werks von Marx auf „bloße Politik“ wurde auch durch eine nicht immer berechtigte Gleichsetzung des Werkes von Marx und Engels ermöglicht. Das heißt nicht, dass es zweckmäßig wäre, die beiden Freunde zu trennen; aber lässt man diese Unterscheidung gänzlich fallen, dann übersieht man, dass die Ideen von Engels (zeitbedingt) oftmals propagandistischer als die von Marx sind und dass die daraus erwachsene Interpretationstradition lange Zeit die allgemeine Vorstellung von Marx’ Werk dominierte. Ähnlich verhält es sich mit der (oft unangemessenen) Gleichsetzung, die später zwischen dem Werk von Marx/Engels und dem von Lenin vorgenommen wurde. So wurde das Werk von Marx zunächst als „Marxismus“ (ein Begriff, der von Marx’ Gegner geschaffen wurde!) und dann als „Marxismus-Leninismus“ kanonisiert, um manchmal sogar mit dem „Stalinismus“, dem „Trotzkismus“ oder dem „Maoismus“ etc. identifiziert zu werden.
Die einzelnen Konfliktlinien müssen uns hier nicht weiter interessieren – aber es ist doch offenkundig, dass die Verbreitung dieser „politischen“ Versionen auch heute noch so groß ist, dass es darüber, was denn „der Marxismus“ nun „wirklich“ sei, immer noch heftige Streitigkeiten sowohl unter den Anhängern als auch unter den Kritikern des Marxismus gibt. Schon daraus erhellt, dass die naiv anmutende Fragestellung: „Bist Du Marxist?“, eine weitgehend uninformierte Vorstellung von Geschichte und Gegenwart des Marxismus offenbart.
Das Werk von Marx selbst hat eine eigentümliche Geschichte. Seine Verbreitung und Verteidigung, die wesentlich mit politischen (und leider auch terroristisch-polizeilichen) Mitteln erfolgte, begünstigte eine Reihe von Schriften, die dann die primäre theoretische Grundlage der Interpretationstradition bildeten. Andere, zunächst unterbewertete oder gar unbekannte Werke von Marx wurden erst sehr spät ernst genommen, zu einer Zeit, als die Tradition des „Marxismus“ bereits etabliert war. Das beliebte Spiel der marxistischen Diskussion nach 1945, zwischen den (humanistischen) „Jugendschriften“ von Marx und seinen (politisch-ökonomischen) „reiferen Werken“ zu unterscheiden und daraus einen theoretischen Bruch abzuleiten, ermöglichte dann weitere Differenzierungen innerhalb des Marxismus. Gerne wurde auch die Unterscheidung zwischen „Marx, der Philosoph“ und „Marx, der Wissenschaftler“ getroffen, oftmals allerdings ohne zu erkennen, welche komplexe und sogar problematische Verbindung Philosophie und Wissenschaft in allen Werken von Marx aufrecht halten. Indes ist es just dieser Zusammenhang, der Marx zu einem ebenso wirksamen Kritiker von Hegels wie auch zu einem „großen Philosophen“ und auch zu einem der Begründer der soziologischen Gesellschaftsanalyse machte. Gerade die vielschichtige Beziehung zwischen Marx und Hegel brachte dann, um die Unübersichtlichkeit komplett zu machen, auch noch „dialektische Marxismen“ und „anti-dialektische Marxismen“ und viele weitere „Spielarten“ des Marxismus hervor, sodass es mit Blick auf die Realität heute insgesamt weitaus korrekter erscheint, von „Marxismen“ statt von „dem Marxismus“ zu sprechen.
Dennoch lässt sich wohl eine Art „begrifflicher Kern“ dessen bestimmen, was „den Marxismus“ von anderen philosophischen und politischen Konzeptionen unterscheidet; wir könnten das Werk von Marx etwa als Matrix dreier Hauptentwicklungslinien betrachten:
a) eine wissenschaftlich-empirische Soziologie/Geschichtsforschung im Widerspruch zur spekulativen Tradition;
b) eine Erkenntnistheorie, die letztlich darauf abzielt, die Erkenntnismethode der naturwissenschaftlichen und historischen/geistigen Disziplinen zu vereinen;
c) eine politische Bewegung, die sich als Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft versteht und auf deren Überwindung hinzielt.
Um diese drei Pole herum hat sich dann tatsächlich in den letzten gut 150 Jahren die Kultur verschiedener und mitunter durchaus divergierender Marxismen entwickelt; diese sind oft weit voneinander entfernt, und sie stehen nicht selten in Widerspruch zueinander. Die Antwort auf die Frage danach, ob man nun Marxist sei oder nicht, gibt uns also wenig Auskunft – denn sie müsste gefolgt sein von der Diskussion darüber, wie es der Befragte mit den oben skizzierten Problembereichen hält und welchen Einfluss die jeweilige Antwort auf seine konkrete politische Praxis hat. Unterlässt man diese Diskussion, dann ist die Frage nach „dem Marxismus“ sachlich wertlos und bestenfalls geeignet, die gefühlsmäßig-assoziative Erregungsamplitude zu erhöhen.
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Ihr Armin Thurnher