Ein Leben, beispielsweise

am 18.07.2007

Leon Zelman war ein öffentlicher Mensch, er gehörte zum Inventar der Republik, wenngleich ihn nicht alle in dieser Republik gern sahen. Für viele war er ein Ärgernis, aber was konnte man gegen den Zorn eines Menschen einwenden, der als Kind ins KZ gekommen war und als Einziger seiner Familie die Shoa überlebt hatte? An Objekten des Zorns fehlte es diesem Mann in dieser Zweiten Republik nicht. Er stellte sich dem Lauf der Dinge in den Weg, zornig hob er seinen Spazierstock und forderte, was er für richtig hielt. Damit meinte er nicht nur Geld für seine Projekte, wichtiger war ihm das Gewicht der Herzen. Nur ein herzloses Unternehmen wie die blau-schwarze Wenderegierung konnte es schaffen, ihm Geld für sein Projekt des Jewish Welcome Service zu streichen.

Beharrlich drang Leon Zelman auf moralische Unterstützung. Offenbar verstanden viele nicht, wofür, und noch weniger, warum er mit Geld nicht zufrieden war. Er wollte Versöhnung, aber ihm lag an Einsicht, nicht an leeren Gesten. Unser erstes Interview machten wir 1992, vor ziemlich genau 15 Jahren, in einem Kaffeehaus, im Café am Stephansdom, fast direkt über dem Büro des Jewish Welcome Service gelegen. Damals forderte Zelman von der rot-schwarzen Regierung und der roten Stadt fünf Millionen Schilling, um 500 aus Wien vertriebene alte Juden hierher einladen zu können. „Es geht mir um die Prinzipien, die diesen Staat moralisch charakterisieren“, sagte er. Wäre er 1938 hier gewesen, könnte er hier sowieso nicht existieren. Er kämpfe noch immer um sein Wien, darum, dass er hier leben könne, in einer Stadt, die Hitler judenrein hatte machen wollen, in einer Stadt, in die ein 19-jähriger ehemaliger KZ-Insasse vom Schicksal gespült wurde.

Im Kaffeehaus hielt er Hof, sein Benehmen erschien mir als eine Mischung aus zerstreuter Unduldsamkeit und herrschsüchtiger Liebenswürdigkeit, Kellner eilten herbei, Gäste grüßten ihn ehrerbietig. Eine Respektsperson. Damals existierte bereits eine Geschichte zwischen Falter und Leon Zelman. In der Waldheimzeit war es zu Berührungen gekommen, Zelman kannte verschiedene Mitarbeiter des Blattes. Sein Jüdisches Echo war bereits im Falter Verlag erschienen. Zelman hatte sich für uns entschieden, „wegen all der wundervollen jungen Leute im Verlag“. Das schien ihm ein anderes Österreich zu sein, eines, wie er es immer gesucht hatte. Dort sah er eine Heimat für die 1951 von ihm gegründete Zeitschrift, die er von einem Studentenblatt zur einmal jährlich erscheinenden intellektuellen Revue europäischen Zuschnitts geformt hatte.

Das Jüdische Echo war eine Einmannschau, man schrieb für Zelman, ob Bundeskanzler oder Nobelpreisträgerin, selbstverständlich ohne Honorar, man inserierte bei ihm, man schlug ihm keine kleine Bitte ab. Große Bitten schon eher. Sein Projekt eines Hauses der Toleranz oder der Geschichte im Palais Epstein brachte er nie zustande. Darüber tröstete ihn nichts. Obwohl er viel erreichte und viel hatte, auf das er stolz war. Die Worte Franz Vranitzkys zu Österreichs Geschichtsbild, die Israelreise dieses Kanzlers, dessen Zuneigung wie die mancher Minister und dreier Wiener Bürgermeister. Zelman war nie zufrieden, auch und gerade dann nicht, wenn er Grund hatte, stolz auf sich zu sein.

Bis zum Frühsommer 1992 war ich mit Leon Zelman nicht über ein gelegentliches Händeschütteln hinausgekommen. Das änderte sich schnell. Das Interview mit ihm erschien, mit seinem Porträt auf der Titelseite des Falter. Das Echo muss beachtlich gewesen sein. Zelman, mit einem Sinn für Öffentlichkeit begabt, erkannte das Potenzial der Zeitung und deren Schwäche. Er rügte, ich mäße mir zu wenig Bedeutung bei. Man liest dich, man hört auf dich! Mach mehr aus deinem Blatt, mach mehr aus dir! Übrigens habe er Zeitungswissenschaft studiert, weil ihn Propaganda interessiere, einerseits um zu erkennen, wie man Menschen so weit bringen konnte, andere ins Gas zu schicken. Andererseits, um diese verführerische Kraft der Propaganda für Gutes zu nutzen. „In uns steckt immer ein Gefühl der Schuld, weil wir glauben oder wenigstens ich glaube, für mein Überleben bezahlen zu müssen.“

In diesem Interview hatte ich mit ihm über sein unglaubliches Leben gesprochen. Besser gesagt, er hatte daraus erzählt. Es war kein Gespräch geworden, eher ein Monolog mit eingeworfenen Fragen. Alles könne er nie erzählen, sagte er. Es war zu spüren, dass er gerne mehr gesagt hätte. Einfach sei das nicht, erklärte er. Erst einmal müsste er jemanden finden, dem er das alles erzählen könne. Das seien Dinge, die er selber verdränge, Dinge, die ihn höchstens in der Nacht heimsuchten. Aber darüber reden? Es reizte ihn doch. Es war nicht Eitelkeit, die ihn trieb, sondern die Verpflichtung, Exempel zu sein. Sein Leben verstand er nicht als Selbstzweck, er konnte über solche Zwecke nicht mehr verfügen, es war das Leben eines Getriebenen, eines schuldlos Verschuldeten geworden. Im Augenblick, da Hitlers Soldaten in dieses Leben einbrachen, folgte es nicht mehr seinem eigenen Gesetz. Oder es war nur klarer als bei uns Durchschnittsbürgern, dass hier einer sein Leben nicht, wie es heißt, in der Hand hatte?

Jedenfalls war es nach einigen Treffen heraußen, er wollte versuchen, mir sein Leben zu erzählen. Ich drängte ihn nicht, aber da ich es gewesen war, der ihn nach seiner Biografie fragte, konnte ich jetzt, da er mich aussuchte, nicht anders, als sein Biograf zu sein. Die Schwierigkeiten waren mir bewusst. Leon Zelman war ein begeisternder Redner, aber alles andere als ein Rhetoriker. Wo ich notgedrungen auf das biografische Detail aus war, hatte er seine historische Mission im Sinn. Und was waren das für Details, nach denen zu fragen war! Mehr als einmal stellte einer von uns das Projekt insgesamt infrage. Wenn er sagte, er könne nicht vom Tod der Mutter sprechen, wenn er weinen musste, als er vom Tod des Bruders erzählte. Wie sollte man aufschreiben, was sich nicht erzählen ließ? Welche Form wäre diesem Zwiespalt zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Erinnerung angemessen, und welche bliebe noch verständlich, lesbar?

Wir ritualisierten unsere Gespräche, um sie erträglicher zu machen. In einem Nachwort zur ersten Ausgabe des Buchs habe ich es geschildert; in der zweiten Ausgabe bestand er darauf, die Episode zu streichen und durch einen Appell für sein Haus der Geschichte im Palais Epstein zu ersetzen. Ich erzähle sie trotzdem noch einmal. Wir trafen uns stets im mittlerweile geschlossenen ersten Stock des Café Gerstner. Leon liebte es, dort zu Mittag zu essen und Leute zu treffen, immer ein Auge auf die Kärntner Straße, ein Auge aufs Lokal, wo er mir Details über Besucher zuflüsterte, der dort war bei der SS gewesen, jener im KZ … Manchmal machte er mich verlegen, indem er mich jemandem vorstellte: „Das ist dieser wunderbare Goj mit dieser wunderbaren Zeitschrift, mit diesem Verlag, in dem auch das Echo erscheint. Wir schreiben ein Buch!“

Es gab ihm Befriedigung, als der erfolgreiche Leon Zelman zu erscheinen, mit einem Büro im Zentrum, dem gegenüber der Stephansdom liegt, wie er sagte. Es gefiel ihm, gekleidet in feines, englisches Tuch vom Brühl aufzutreten, respektiert und gegrüßt von jedermann. Es nützte alles nichts. Als wir über die Mutter, den Bruder, das Shtetl redeten, den Tod, das Ghetto, das KZ, nahm ihm, dem stolzen Mittsechziger, die Erinnerung die Sprache. Wir dachten uns Abläufe aus, um sie zu finden, um das Unerträgliche irgendwie auszuhalten. Wir aßen immer das nämliche Menü, Kalbsfaschiertes mit Kartoffelpüree und Salat, eine seiner Leibspeisen. Bestimmt zwanzigmal haben wir das dort gegessen und dabei unter Tränen über Tod, Trauer und Tragödie gesprochen. Das Tonband lief immer mit, und das Essen wurde immer gegessen.

Als er die englische, von Meredith Schneeweiß übersetzte Ausgabe des Buchs im Leo Baeck Institute im New Yorker Lincoln Center vorstellte, erklärte er den Hunderten Zuhörern, wie es dabei hergegangen war: „I speak into the radio, and the book is finished!“ Alle lachten, außer mir, denn schon wurde ich in der mir geläufigen schmeichelhaft-beschämenden Weise vorgestellt. In diesem Saal verstand ich, welche Rolle Leon Zelman für Wien, für Österreich in der Welt spielte. Es waren nicht mehr viele Emigrantinnen und Emigranten da, aber umso mehr ihrer Kinder und Enkel. Sie stellten Fragen, die zeigten, dass sie Österreich noch immer als ein Land ansahen, in dem Oskar Helmer Innenminister war und wo Juden nicht besonders willkommen waren. Diese Leute liebten Leon Zelman, ihm glaubten sie seine Versicherungen, dass sich alles geändert hatte. Erst wenn man diese Zuneigung sah, verstand man, warum er an Borodajkiewicz, Waldheim, Haider und anderen hiesigen Erscheinungen von Gestrigkeit so sehr litt. Er konnte sie nur als persönliche Gegner seines Lebenskampfs verstehen.

Leon liebte übrigens Witze. Den vom Polen, der nach London fährt, habe ich von ihm gehört. Warum er hinfahre, fragt ihn einer. To polish my English, sagt er, und bekommt zur Antwort: Your English is polish enough! Keinesfalls sollte seine Biografie ein Holocaustbuch werden, sagte Leon Zelman. Ihm ging es um das Leben danach, um das Leben trotz Shoah, das ohne Shoah nicht mehr denkbar war. Er wollte sein Leben dabei in die Waagschale werfen. Sein Kampf gegen Hitler sei es gewesen, Wien zu seiner Stadt zu machen, zu einer Stadt, auf die er stolz sein konnte, sagte er. An den Rückschlägen litt er ebenso, wie er die Erfolge genoss. Damit sind nicht nur die zahlreichen öffentlichen Ehrungen gemeint, die ihm die Republik und vor allem die Stadt erwiesen haben, sondern das Glück in den Augen jener Vertriebenen, die er mit seinem Jewish Welcome Service nach Wien eingeladen hatte. So schloss unser Interview, vor 15 Jahren: „Wien hat mir eine Heimat gegeben und Freunde, die mir mit Verständnis zur Seite gestanden sind, auch wenn ich nicht leicht zu ertragen war, weil ich dem Leben mehr schuldig war, als ich ihm geboten habe. Das ist alles. Merkwürdig, nicht wahr?“

Letzte Woche ist Leon Zelman im Alter von 79 Jahren in Wien gestorben.

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