Eine Kriegsmatura für den Corona-Jahrgang?

Alan S. Ross
am 29.05.2020

Die Zentralmatura findet nun, trotz Coronakrise, statt. Österreichs „verschlankte Matura” hat, wie ähnliche Vorstöße in deutschen Bundesländern, viele Vergleiche zur Kriegsmatura der beiden Weltkriege provoziert. Vor allem in sozialen Netzwerken wird gerne von Großvätern berichtet, denen diese Kriegsmatura in keiner Weise geschadet habe.

Doch mit diesem Vergleich sollte vorsichtig umgegangen werden. Denn die Kriegsmatura diente in allen Fällen, in denen sie angewandt wurde, nur dazu, die Zukunftssorgen von Eltern und jungen Männern zu zerstreuen und letztere möglichst schnell der Front zuzuführen. Das Versprechen, diese Abschlüsse würden später von Universitäten anerkannt werden, war nach den Kriegen oft nichtig. Sprichwörtlich geworden sind die Klassen, in denen gestandene Männer über 30 mit vorpubertären Kindern zusammen erneut die Schulbank drücken mussten. Viel schwerwiegender wiegt jedoch die Dunkelziffer von Wunschkarrieren, die aufgegeben werden mussten, wohl disproportional oft vor allem von Frauen, die z. B. während der Nazidiktatur in Hauswirtschaftsklassen abgeschoben worden waren und die Schule mit als „Puddingabitur” verschrienen Reifezeugnissen verließen. In jedem Fall bedeuteten die Kriege Unterbrechungen von Bildungskarrieren, die, wie es sich auch in der jetzigen Krise abzeichnet, von wohlhabenden Familien weitaus leichter abgefangen werden konnten.

Ob die Zentralmatura nun stattfinden solle oder nicht, wird nun bereits seit Wochen heiß diskutiert. Fakt ist: wir müssen uns so oder so auf eine Bildungskrise gefasst machen.  Auch wenn dieses Jahr die Prüfungen noch stattfinden, werden sich doch die Folgen der Coronawelle auf die Lebensläufe von Schülerinnen und Schülern vielleicht mindern, jedoch nicht abwenden lassen. Ein Blick auf frühere Krisen zeigt: je länger Schulen schließen oder Notbetrieb besteht, desto ungleicher werden Schülerinnen und Schülern untereinander und desto unterschiedlicher werden Bildungswege. Fachspezifisches Wissen, das in bestimmten Studiengängen verlangt wird, wird nachgeholt werden müssen. Psychische Folgen der Krise werden noch lange nach Abflauen der Infektionswelle Einfluss auf Bildungskarrieren haben. Jobs, die nun weggefallen sind und ohne die sich die Mehrheit von Studierenden ihr Studium nicht finanzieren kann, müssen erst wieder entstehen. Finanzielle Polster, die Familien nun angehen müssen, werden in kommenden Jahren für Bildung fehlen.

Wie kann in der Coronakrise der Schaden für Schülerinnen und Schüler begrenzt werden? Viele Bildungswege werden unweigerlich unterbrochen, umgelenkt und vielleicht erst nach mehreren Jahren wieder neu gestartet werden können. Die Politik ist hier selbstverständlich gefordert, indem Förderprogramme angepasst und Studienaufnahmeprotokolle überdacht werden müssen. Fraglos wird es ein „Notstandsprogramm” geben müssen, um ein Wort des Pädagogen Georg Pichts zu gebrauchen, der 1964 mangelnde Bildungsreformen nach dem Zweiten Weltkrieg anprangerte. Doch kann die Verantwortung der jetzigen Generation von Schülerinnen und Schülern gegenüber nicht einfach dem Staat überlassen werden.

Auch wenn wir nach Jahrzehnten der Liberalisierung von Arbeitsmärkten uns daran gewöhnt haben, dass unsere eigenen Fähigkeiten nach stereotypischen Schemata bewertet werden: der kommenden Generation werden wir offener gegenüber sein müssen. Vor allem Arbeitgeber werden einsehen müssen, dass jüngere Kandidatinnen und Kandidaten nicht automatisch geeigneter sind und dass ein lückenloser und geradliniger Lebenslauf kein besserer Lebenslauf ist.

Es darf nach der Krise kein „Weiter so!” mehr geben. Sonst tun wir der jetzigen Generation nicht nur Unrecht, sondern vertiefen auch Gräben in der Gesellschaft, die unser Gemeinwesen über Jahrzehnte hinweg bestimmen werden. Die Worte Georg Pichts könnten auch aus den Zeiten der Coronakrise stammen: „Es geschehen hier Verbrechen. Es geht um das reale Leben von zehntausenden und hunderttausenden von jungen Menschen, die … ihrer realen Lebenschancen beraubt werden.”

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