Aus der Trabantenstadt in den Häuserkampf
Alexander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, ein Klassiker der 68er-Jahre, ist in Würde gealtert
Text: Matthias Dusini
Im Jahr 1965 veröffentlichte der deutsche Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich ein Buch, das zum Bestseller und nun aus Anlass seines 100. Geburtstags wieder aufgelegt wurde. Mehr Pamphlet als Analyse, verdammt Mitscherlich den Städtebau der Moderne – die funktionelle Entmischung in Wohnviertel, Industriezonen und Freizeitparks, aber auch die Vorstadtvilla als Ausdruck eines entfesselten Individualismus.
Viele Argumente, mit denen Mitscherlich die Wirtschaftswunderidylle störte, tauchen auch in der Urbanismuskritik der Gegenwart auf: die Nachgiebigkeit der Stadtplanung gegenüber Investoren, die Missachtung der für den alltäglichen Gebrauch so wichtigen Räume für Kinder und Jugendliche oder die für die Kinderbetreuung nachteilige Trennung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. „Alte Städte hatten ein Herz“, schreibt Mitscherlich. Seine Kritik bleibt nicht an den Geschmacklosigkeiten der Häuslbauer hängen, sondern steigert sich zur radikalen Forderung nach Bodenenteignung. So bolschewistisch redet heute niemand mehr.