Zwischen Istanbul und Anatolien liegen Welten
In seinem Roman „Glückseligkeit“ beschreibt das Multitalent Züfü Livaneli die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft
Text: Edgar Schütz
Mitunter ist es ebenso erstaunlich wie bedrückend, welche gesellschaftlichen Unterschiede trotz allem Globalisierungseifer herrschen. Eine literarische Expertise darüber bereitet Züfü Livaneli in seinem Roman „Glückseligkeit“ im Fall der Türkei auf. Gleich zu Beginn taucht der Leser in ein – zumindest hierzulande – völlig unbegreifliches Schicksal ein.
Im wilden Osten Anatoliens wächst die 15-jährige Meryem auf. In ihrem Dorf feiern archaische Mythen und eine voraufklärerische Religionsauffassung sowie genuine Frauenfeindlichkeit fröhliche Urständ. Meryem wurde aus Sicht ihrer Umgebung im Grunde bereits „schuldig“ geboren, weil die Mutter bei ihrer Geburt verstarb. Zu einem jungen Mädchen herangewachsen, wird sie in einem Gartenhaus von ihrem Onkel, dem Imam des Ortes, vergewaltigt. Aber nicht der ehrwürdige Scheich wird zur Rechenschaft gezogen, sondern Meryem, die bei ihrer Familie auf keinerlei Verständnis oder so etwas wie Rechtsempfinden rechnen kann, wird in ein Kellerloch gesperrt.