Eisschollen treiben durch die Prater Hauptallee
Thomas Stangls Roman „Was kommt“ zoomt durch Wien und stellt die Vergangenheit in beeindruckenden Denkbildern still
Buchkritik: Klaus Nüchtern
Nach einem Ausflug nach Timbuktu, den Thomas Stangl in seinem Debüt „Der einzige Ort“ (2004) an der Seite zweier Forschungsreisender der 1820er-Jahre unternommen hatte, kehrte er zwei Jahre danach mit „Ihre Musik“ in seinen Heimatbezirk zurück, der auch Schauplatz seines jüngsten Romans ist. Für einen Ausschnitt aus „Was kommt“ wurde er 2007 beim Bachmann-Wettbewerb mit dem Telekom-Austria-Preis (quasi Platz zwei) ausgezeichnet.
Es riecht sehr unschick im Karmeliterviertel: nicht nach feiner Ethnoküche, sondern nach Kohl und Kohle, Essig und Urin. Das lässt sich natürlich mit der Zeit der Handlung begründen: Der Roman spielt im Jahr 1937 beziehungsweise in den 70er-Jahren. Die Sache hat nur einen Haken: Stangl glaubt nicht an die Zeit, wie wir sie kennen: So hartnäckig wie der Kohl(en)gestank halten sich auch andere Dinge, und der ganze Roman ist eine einzige Opposition gegen die Auffassung, dass das schiere Fortschreiten der Zeit auch schon als Fortschritt anzusehen wäre: „Wie seine Großmutter lebt, so leben die alten Leute seit Jahrzehnten und Jahrhunderten“, heißt es da etwa aus Sicht des Mittelschülers Andreas Bichler, dessen, nun ja, Biografie der Erzähler mit jener der 17-jährigen Emilia Degen verschränkt, die im Sommer 1937 das vaterländische Vorspiel zur Machtübernahme der Nazis erlebt und – wie man aus „Ihre Musik“ weiß – auch noch Jahrzehnte später mit ihrer todkranken Tochter im Karmeliterviertel leben wird.