Welt im Zitat
Fehlleistungsschau
Billy ist der Apollo der Moderne
Ein Archäologenteam grub im Sommer 1979 in der sowjetischen Industriestadt von Magnitogorsk eine konstruktivistische Skulptur aus, die es zunächst für ein Werk der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky hielt, die in den 30er-Jahren hier tätig war. Das Objekt war von so klassisch sachlicher Form und so raffiniert einfach gebaut, dass es unmöglich ein anonymes sowjetisches Huschpfuschprodukt sein konnte. Man war hier auf ein Meisterwerk prefabrizierter, modularer Bauweise gestoßen.
Die Aussagen von Arbeitern in Magnitogorsk, dass es sich um ein Werk des Konstruktivisten Dimitri Biliakow handle, ließen sich nicht verifizieren. Im Inventar der Archäologen erhielt das schon ziemlich verfaulte Objekt den Namen "Biliakowtschik".
Die moderne Bewegung ist so reich an gestalterischen und gesellschaftspolitischen Ideen, dass man mit Fug und Recht von der Moderne als unserer Antike sprechen kann. Biliakowtschik wäre dann der moderne Apollo von Belvedere. Seine Maße entsprechen in etwa Le Corbusiers Proportionssystem Modulor, die den Menschen zum Maßstab der architektonischen Ordnung nahm; man kann in "Bili" auch den wohlproportionierten Entwurf eines Hochhauses sehen.
Das schwedische Unternehmen Ikea erkannte in Biliakowtschik aber die Vorlage für ein Bücherregal und verkauft es seit 1982 unter der Abkürzung "Billy" als Selbstbaumöbel. Auch gut! Man muss ja keine Bücher reingeben. Am schönsten ist Billy - diese Verkörperung edler Einfalt und stiller Größe - nämlich entblößt. Goethes Worte über den Apoll, Billy sollten sie gelten: "Warum zeigst du dich in deiner Nacktheit, dass wir uns der unsrigen schämen müssen?"
Doch selbst Bücher können Billys Schönheit nicht zerstören, die weit mehr ist als Fassade. Auch wenn Exstudenten versuchen, sich vom WG-Muff zu befreien, indem sie ihre Suhrkamptaschenbücher in teure Designerregale schichten: Biliakowtschik ist das Maß aller Dinge.