Theater Kritik

Was wurde eigentlich aus der Biomechanik?

Thomas Wolkinger
Steiermark, FALTER 36/10 vom 08.09.2010

Auf die ewige Theaterfrage, ob und wie denn echtes Leben auf einer Bühne zu verhandeln sei, ohne es bloß nachzuäffen, findet hierzulande derzeit kaum jemand überraschendere Antworten als die zweite liga für kunst und kultur. Über mehrere Stufen der Verfremdung verschränkt das Theaterkollektiv rund um Johannes Schrettle und Christina Lederhaas diesmal in „Das Privatleben ist ein hungriger Jäger“ die Schicksale von Figuren eines fiktiven „Seifenopernromans“, der angeblich auf einem südsteirischen Weingut spielt, mit Dialogen, die vermeintlich Alltagsprobleme aus dem wirklichen Privatleben der vier Schauspieler verhandeln. Bewerbungsschreiben, Vorstellungsgespräche, WG-Annoncen – alles da, was an Metaphern für Zustände neoliberaler Verunsicherung seit Jahren durch die Theaterexperimente der zweiten liga geistert.

Die Banalität des Gestus einer Seifenoper konterkariert Johannes Schrettle, der für die Dramaturgie verantwortlich zeichnet, dabei mit einer hyperästhetisierten Spielweise der Darsteller, die – ebenso wie die großartige Ausstattung (Lena Gätjens) – ganz in der Tradition des konstruktivistischen Theaters eines Wsewolod Meyerhold steht. Biomechanik hat man lange nicht auf der Bühne gesehen, und besonders dann, wenn Christina Lederhaas aus ihrer Tanzausbildung schöpft, entfalten diese streng schematisierten Bewegungsabläufe, die – ganz konzeptuell gesetzt – auch gegen psychologistischere Spielpraktiken gerichtet sind, ihre Reize jenseits reinen Klamauks. In einer kurzen Sequenz gegen Ende entfremden die Darsteller den Ablauf in einer weiteren Volte, kehren zurück zu Umgangssprache und -gestik und befragen einander über die Gefühle, die aus dem Theaterspiel verschwunden seien, über Wut, Liebe und Ohnmachtsgefühl. Das wirkt freilich erst recht befremdlich. Beste Unterhaltung im Brecht’schen Sinne, so macht Nachdenken richtig Freude.

Volkstheater Graz, Mi, Do 20.30

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