Die leere Revolverkammer oder Ich bin dann mal weg

Peter Iwaniewicz
Sachbuch, FALTER 41/12 vom 10.10.2012

Ökologie: Lothar Frenz’ Geschichte des Lebens und Sterbens der Arten hat das Zeug, Wissenschaftsbuch des Jahres zu werden

Lonesome George starb im Alter von 100 Jahren am 24. Juni 2012. Er war der letzte lebende Vertreter der Galapagos-Schildkröten. Paul R. Ehrlich, Professor für Biologie in Stanford, meinte dazu: "Artensterben ist wie Russisches Roulette: Jede Art, die ohne schwerwiegende Folgen ausgerottet wird, entspricht einer leeren Revolverkammer. Aber wie sollen wir das wissen, bevor wir abdrücken?“

Die durchschnittliche Lebensdauer einer Tierart betrug bisher etwa zehn Millionen Jahre, danach gab es entweder besser angepasste Nachfolger oder bessere Konkurrenten. Mehrmals kam es in unserer Erdgeschichte auch schon zu Massenuntergängen: Vor ca. 250 Millionen Jahren starben vermutlich fast 90 Prozent aller auf der Erde lebenden Tierarten aus, und vor 65 Millionen Jahren wurden neben den Dinosauriern auch 15 Prozent aller Meereslebewesen ausgelöscht.

Trotz dieser Katastrophen lag die errechnete Aussterberate bisher bei neun Prozent pro einer Million Jahre. Das bedeutet, dass in einer Welt mit zwei Millionen lebenden Arten alle fünf Jahre eine Spezies unwiederbringlich verschwindet.

Seit der Industriellen Revolution haben wir diese Rate ganz wesentlich verändert: In den 1970er-Jahren schätzte man, dass etwa eine Art pro Tag ausgerottet wurde, in den 1980ern vermutete man bereits den Verlust einer Art pro Stunde. Hinter diesen eher abstrakten Zahlen stehen aber auch Geschichten und Schicksale.

Anders als bei den Dinosauriern verpassen wir manche Tierarten nur um einen erdgeschichtlich winzigen Augenblick. "Gestern“ waren manche Lebewesen noch da, aber wir können sie heute nicht mehr kennenlernen.

Der Biologe und Journalist Lothar Frenz hat gut recherchierte Fakten über das Verschwinden der Arten in gut lesbare und lesenswert gute Geschichten gepackt. Weshalb sterben eigentlich einige Arten aus und andere erholen sich in ihrem Bestand wieder? Auf welche Weise verschwinden die Letzten ihrer Art? Und was ist bis kurz vor dem Abgang des letzten überlebenden Individuums passiert?

Der Nestor der Biodiversitätsforschung, Edward O. Wilson, meinte dazu sehr treffend: "Jede Art lebt - und stirbt - auf ihre ureigene, einmalige Weise“.

Und genau diesen Gründen und ökologischen Entwicklungen folgt Frenz in seinem erstaunlichen Buch. Er stellt jene wenigen Arten vor, die wir "gerade eben verpasst“ haben, die erst seit "gestern“, also in jenen fünfhundert Jahren seit Kolumbus, nicht mehr auf der Erde, sondern - meist mit menschlichem Zutun - ausgerottet worden sind.

Doch sein Blick ist nicht nur in die Vergangenheit gerichtet, sondern er geht auch der Frage nach: Was passiert eigentlich, nachdem eine bestimmte Art ausgelöscht wurde? Fast wie in einem Kriminalroman müssen die einzelnen mosaikartigen Berichte über eine vergangene Tierart mit Klimageschichte und Aspekten der Ökologie zu einem plausiblen Bild zusammen-gesetzt werden.

In 23 kurzen und kurzweiligen Kapiteln entrollt der Autor eine Geschichte des Lebens und Sterbens auf unserem Planeten: Fünf Milliarden Wandertauben, die häufigste Vogelart Nordamerikas, verschwanden innerhalb von nur hundert Jahren.

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Darf man ein Insekt absichtlich ausrotten, nur weil es als Parasit auf einer bedrohten Tierart wie dem Kalifornischen Kondor lebt? Und auch wenn man die letzten Exemplare des Pyrenäen-Steinbocks schützt, kann man dann trotz Inzucht daraus eine dauerhafte und überlebensfähige Population züchten?

Die Dimensionen der Geschichten reichen weit über die bloße naturwissenschaftliche Perspektive hinaus und erörtern auch die kulturellen und sozialen Hintergründe, die zum Verschwinden der Arten geführt haben.

Frenz schreibt nicht belehrend "deutsch“, sondern in jenem feinen Stil angloamerikanischer Wissenschaftsautoren, die trockene Fakten zu spannenden Storys ausbauen. Ein Anwärter auf das Wissenschaftsbuch des Jahres!

Lothar Frenz: Lonesome George oder das Verschwinden der Arten. Rowohlt, 347 S., € 20,60

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