Die Eingesperrten: "Winterschlaf"

Michael Pekler
FALTER:Woche, FALTER:Woche 8/2015 vom 18.02.2015

Wenn der ehemalige Theaterschauspieler Aydin (Haluk Bilginer) abends seine Kolumne für eine Provinzzeitung verfasst, fragt er gerne seine Schwester Necla (Demet Akbag), die es sich daneben auf einem Sofa bequem gemacht hat, nach ihrer Meinung. Nicht weil er wirklich wissen möchte, ob seine Texte bei ihr Anklang finden, sondern weil es ihm prinzipiell ein Bedürfnis ist, seine Gedanken laut vorzutragen. Aydin ist knapp 60 Jahre alt und verbringt den Winter mit Necla und seiner jungen Frau Nihal (Melisa Sözen) in seinem Hotel in den Bergen Kappadokiens. Das Hotel gleicht einer in den Berg gebauten Höhle inmitten einer pittoresken Felsenlandschaft und dient Aydin als Rückzugsort - vor der Wirklichkeit. Denn mit dieser will Aydin nichts zu tun haben, er will nur von ihr profitieren und ihr seine Perspektive erklären. Doch die Außenwelt - für Aydin in erster Linie das nahegelegene Dorf, in dem er einige Häuser vermietet - lässt sich nicht auf Dauer ausblenden, und wenn einer der Dörfler delogiert werden soll, weil er die Miete nicht mehr bezahlen kann, dann wirft ein kleiner Junge einen Felsbrocken und bringt einen Stein ins Rollen.

"Winterschlaf", das großartige und zu Recht mehrfach prämierte Werk des renommierten türkischen Autorenfilmers Nuri Bilge Ceylan, ist ein mehr als dreistündiges Geduldsspiel, das immer tiefer in das Innere seiner Figuren hineinblicken lässt. Mit jeder Minute verdichtet sich das Geflecht der Beziehungen, werden alte Rechnungen beglichen und neue aufgestellt, will Aydin seiner selbstverliebten Arroganz zum Trotz in Wahrheit nur geliebt werden. Dass sich Ceylan von Kurzgeschichten Tschechows hat inspirieren lassen, wird angesichts jener minutenlangen Dialoge deutlich, in denen sich die drei in ihrer eigenen Welt Eingesperrten rhetorische Scharmützel liefern, die in Bildern verschneiter Berge widerhallen.

Ab Fr im Stadtkino und Filmhauskino (OmU)

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