Der Boulevard der Befreiung

Die Ausstellung des Jüdischen Museums zum 150. Jubiläum der Wiener Ringstraße

FALTER:Woche, FALTER:Woche 14/2015 vom 31.03.2015

Blick auf den Schottenring. (Foto: Sammlung Helfried Seemann)

Am 1. Mai 1865 eröffnete Kaiser Franz Joseph I. die Wiener Ringstraße. Die 150. Wiederkehr dieses Jahrestages nehmen zahlreiche Museen zum Anlass, das größte städtebauliche Projekt Wiens in Ausstellungen darzustellen. Das Jüdische Museum Wien präsentiert die Ringstraße als jüdischen Boulevard. Die Kuratorin Gabriele Kohlbauer-Fritz erklärt die Zusammenhänge zwischen dem Bau der Prachtstraße und einer nach gesellschaftlicher Anerkennung strebenden Minderheit.

Falter: Frau Kohlbauer-Fritz, was ist jüdisch an der Ringstraße?

Gabriele Kohlbauer-Fritz: Juden durften vor 1860 keine Häuser besitzen. Für die jüdischen Familien war es danach ein besonderes Zeichen der Anerkennung, an der Ringstraße, der via triumphalis des Kaiserreiches, bauen zu können. Ein Palais an der Ringstraße hatte eine symbolische Bedeutung. Die Juden hatten das Gefühl: Jetzt sind wir in der Gesellschaft angekommen.

Haben sich jüdische Palais von anderen unterschieden?

Kohlbauer-Fritz: Die Historikerin Elana Shapira stellt in ihrem Katalogbeitrag die These auf, dass sich die jüdischen Familien besonders mit den hellenistischen Griechen identifiziert haben und diese Vorliebe auch in die formale Gestaltung der Palais eingeflossen ist. In Wand- und Deckengemälden des Palais Todesco ist etwa die ganze altgriechische Mythologie dargestellt. Meine Meinung ist eher, dass das jüdische Großbürgertum den gleichen Geschmack hatte wie das nichtjüdische. Man hat miteinander verkehrt und in der zweiten und dritten Generation auch untereinander geheiratet. Viele haben sich für die Eheschließung taufen lassen.

War die Ringstraße mithin das Symbol jüdischer Assimilierung?

Kohlbauer-Fritz: Ich würde sagen, ja. Im Zuge der Recherchen für die Ausstellung habe ich die Briefe gelesen, die die Ringstraßen-Bewohnerin Mathilde Lieben an ihre Cousine in England geschrieben hat. Darin kommt Religion nur mehr als reine Äußerlichkeit vor. Andere Familien wie die Königswarters wiederum waren sehr fromm.

War die Ringstraße auch eine Zielscheibe der Antisemiten?

Kohlbauer-Fritz: In der zeitgenössischen Presse gibt es das Klischee des galizischen Juden, der nach Wien kommt, reich wird und an der Ringstraße residiert. Dieses Stereotyp ist falsch, denn die Ringstraßenfamilien waren schon seit mehreren Generationen in Wien beheimatet. Andere antisemitische Karikaturen zeigen den jüdischen Spekulanten an der Börse. Auch das stimmt nicht, denn beim Börsenboom haben alle mitgemacht, auch der Adel und das Kleinbürgertum.

Und wie war das Verhältnis der Sozialisten zum Bürgertum der Ringstraße?

Kohlbauer-Fritz: Wenn man die Arbeiterzeitung von damals liest, eher kritisch. Auch bei Karl Kraus gibt es kritische Anmerkungen. Einmal schreibt er, dass sich die Gutmanns und Rothschilds ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen sparen könnten, wenn sie ihre Arbeiter anständig bezahlen würden.

Die Ziegel für die Palais wurden bekanntlich in den Lehmgruben

am Wienerberg produziert.

Kohlbauer-Fritz: Der Ziegelfabrikant Heinrich Drasche hat die böhmischen Arbeiter ausgebeutet. Die Arbeitsverhältnisse waren katastrophal. Er hat ihnen keinen Lohn gezahlt, nur Bons, mit der Begründung, dass sich die Arbeiter sonst nur Alkohol kaufen würden. Dass er kein Jude war, wurde damals allerdings nicht thematisiert. Sein Palais war der Heinrichshof gegenüber der Staatsoper und wurde im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört.

Wie ist es den jüdischen Familien während der NS-Zeit ergangen?

Kohlbauer-Fritz: Manche mussten emigrieren, andere, die nichtjüdisch geheiratet hatten, konnten nach 1938 bleiben. Ein tragischer Fall ist Karl Motesiczky, der aus der Familie Todesco stammte. Er ist in Wien geblieben, da sein Vater nichtjüdisch war. Motesiczky hat mit Ella und Kurt Lingens in einem Anwesen der Familie in der Hinterbrühl eine Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten gegründet. Er wurde verraten, verhaftet und 1943 in Auschwitz ermordet. Ella Lingens hat überlebt, ihr Mann Kurt kam in ein Strafbataillon der Wehrmacht. Karls Schwester Marie-Louise von Motesiczky hingegen, die eine bedeutende Malerin wurde, konnte Wien noch vor dem März 1938 verlassen. Sie hat in London ein Zentrum für österreichische Emigranten geschaffen. Unter anderem hat sie dort den Wiener Schriftsteller und späteren Nobelpreisträger Elias Canetti unterstützt. Wenn man sich mit der Ringstraße beschäftigt, kann man viele Geschichten erzählen.

Jüdisches Museum Wien, bis 4.10.

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