Wie es ist, 7 Jahre lang das Zimmer nicht zu verlassen
Samstag, 16. Mai: Liebes Tagebuch! Heute ist Premierentag. Nicht nur für die Festwochen, sondern auch für mich. Als bekannt wurde, dass Wolfgang Kralicek nach 20 Jahren den Falter verlässt, kam von allen Seiten die Frage, was denn aus seinem tollen Festwochentagebuch werden würde. Auch ich habe mich das gefragt und war traurig, dass ich nun nicht mehr bei ihm nachlesen kann, was ich alles verpasst habe. Jetzt ist es so gekommen, dass ich so gut wie nichts mehr versäumen werde, weil ich heuer erstmals in Kraliceks Fußstapfen trete und mich bei den Wiener Festwochen auf die Suche nach dem großen Theaterglück mache. Ein bisschen beängstigend ist das. Immerhin sind das 40 Theater-und Opernvorstellungen, und ich will sie alle sehen, damit nun andere nachlesen können, was sie wieder einmal verpasst haben.
Heute ist mein erster Tag. Ein "installatives Spiel" nennen die Künstler Bart Baele und Yves Degryse ihr Doku-Stück "Perhaps all the dragons. Horror Vacui [#3]". Dafür haben sie ein schönes Holzkonstrukt gebaut, eine Art Konferenztisch, an dessen Innenseite man sitzt. Jeder Zuschauer hat einen Bildschirm vor sich. Insgesamt 30 Menschen haben die Künstler ihre eigene Geschichte erzählen lassen, fünf davon - weil man angeblich über fünf Ecken jeden Menschen auf der Welt kennt - kriegt man zu sehen. Ich lande bei einem schwedischen Neurowissenschaftler aus Lund und freue mich, weil meine Großeltern dort leben. Dann erzählt mir ein israelischer Kampfpilot, wie er einem palästinensischen Kind das Leben gerettet hat. Die letzte Person in dem süchtig machenden Geschichtenreigen: eine Japanerin, die seit sieben Jahren ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen hat.
Übrigens: Das diesjährige Giveaway ist ein Notizbuch und ein Glückskeks. In meinem Keks ein Zitat von Horváth: "Ach, wir armen Kulturmenschen!"
Sara Schausberger sieht fast jede Vorstellung der Wiener Festwochen