Rede aufnehmen, Glas einschneiden

Informationsbureau

Kolumnen, FALTER 22/2015 vom 27.05.2015

Liebe Frau Andrea, eine neue Frage, die mir am Herzen liegt und deren Aufklärung wohl fachkräftiger detektivischer Unterstützung bedarf: In seiner Weihnachtsansprache sprach Kanzler Figl unter anderem davon, dass er "kein Glas zum Einschneiden" bieten könne. Ich bitte um Aufklärung, was hiermit gemeint ist, ich bin ratlos.

Liebe Grüße, Roman Nussgruber, per E-Mail

Lieber Roman,

"Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Ich kann euch keine Gaben für Weihnachten geben. Kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden ... Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich ..."

Die legendären Sätze gehören zum innersten Mythenschatz der Zweiten Republik. Gleichwohl ist an diesem Durchhalteappell vieles mysteriös, hat Figl die Rede doch mindestens zwei Mal gehalten. Ein erstes Mal am 24.12.1945 im Radio, als Weihnachtsansprache. Von dieser Rede an die noch mindermonatige Nation gibt es allerdings weder eine Tonbandaufnahme noch ein Manuskript. 1965 hielt Figl die Rede ein zweites Mal, kurz vor seinem Tod, in kleinem Kreise. Nach umfangreichen Recherchen in Zeitungen, Büchern und Parteibroschüren hatte Hans Magenschab, Planungsverantwortlicher einer 20-Jahre-Kriegsende-Show die Figl-Rede rekonstruiert. Retrospektiv neuerfunden, wie manche meinen. Magenschabs Freund, der spätere ORF-Intendant Ernst Wolfram Marboe, ein Großneffe und Verbindungsbruder Figls, organisierte die Aufnahme, der Altkanzler, schon sterbenskrank, approbierte den Text und las ihn wirkungsvoll vom Blatt. Die erwähnten fünf Sätze stammen wahrscheinlich aus einer Festschrift, die 1962 zum 60. Geburtstag Figls erschienen ist. Dort ist diese Passage allerdings als "Weihnachtsbotschaft" ausgewiesen, nicht als "Rundfunkrede".

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