Mama fährt jetzt weg
Die 24-Stunden-Betreuerinnen lösen das Pflegeproblem österreichischer Familien. Was aber macht der Job mit ihren eigenen Familien? Die andere Seite der Geschichte

Foto: Heribert Corn
Es ist Mitternacht. Der Mond ist fast voll. Am Hintereingang eines neunstöckigen Hauses, Plattenbau, steht ein neunjähriges Mädchen. Es trägt einen Hello-Kitty-Pyjama und rosa Crocs, es fröstelt. Das Mädchen dürfte eigentlich nicht hier sein. Vor vier Stunden schon hat die Mutter mit den Gute-Nacht-Ritualen begonnen: baden, Haare kämmen, Geschichte lesen, kuscheln, Augen zu. Aber eine Neunjährige lässt sich nicht mehr so leicht austricksen. In Nächten wie heute hält sie mit wilder Entschlossenheit die Augen offen. Sie weiß ja, was gespielt wird und warum die Mutter so ganz besonders fürsorglich ist. Jeden ersten Montag im Monat, um Mitternacht herum, fährt die Mutter weg.
Tochter, Mutter und Großmutter stehen jetzt allerdings schon seit einer halbe Stunde herum, schweigend. Der Fahrer hat ein SMS geschickt, er verspätet sich. Es gibt nichts mehr zu sagen; geheult, beruhigt und getröstet wurde schon genug. Ab und zu hört man auf einem Balkon ein Feuerzeug klicken. Endlich ist das Auto da. Bevor der Fahrer die Reisetasche der Mutter einlädt, öffnet das Mädchen noch schnell den Reißverschluss, zerrt Mamas Lieblingsjacke mit den silbernen Glitzerfäden heraus, und drückt sie triumphierend an die Brust. Die Mutter seufzt und verschwindet im Auto. Dann ist sie weg.
Die Mutter heißt Romana B. und ist 33 Jahre alt. Sie ist eine von etwa 60.000 selbstständigen Personenbetreuerinnen in Österreich. Nach fünf Stunden Fahrt wird sie im Morgengrauen vor einem Döblinger Zinshaus aussteigen, zehn Stufen ins Hochparterre hinaufgehen, mit ihrer schon abfahrbereiten Kollegin ein paar Worte wechseln und anfangen, das Frühstück für eine an Alzheimer erkrankte Frau herzurichten. Sie sagt „Frau Doktor“ zu ihr, obwohl diese nicht einmal mehr ihren Namen schreiben kann. Es gibt Filterkaffee, Wurstbrot, Entwässerungstabletten. Dann Windelhosen, Wäschewaschen, Spazierengehen im Park. Das ist die eine Hälfte der Geschichte – jene, die man kennt in Österreich.