Suche Gemeinschaft, biete Like
Eine Twitter-Ethnografie erklärt, wie das soziale Netzwerk so groß werden konnte

Illustration: Oliver Hofmann
Vor 100 Jahren beobachtete der polnische Anthropologe Bronisław Malinowski auf den Trobriand-Inseln im Südpazifik ein eigenartiges Ritual: Regelmäßig machten sich Bewohner im Kanu auf den gefährlichen Weg zu den Nachbarinseln, um dem Oberhaupt des dortigen Stammes Schmuck zu schenken. Dieser Austausch von Geschenken zwischen den 18 Inselstämmen, Kula-Ring genannt, sei notwendig für die Gemeinschaft, mutmaßte Malinowski. Denn die Geschenke geschahen zwar freiwillig, doch entstand dabei die Verpflichtung, sie zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Gegengabe zu erwidern. Vereinfacht gesagt: Wer sich beschenkt, bekriegt sich nicht.
Vor neun Jahren registrierte sich der deutsche Medienwissenschaftler Johannes Paßmann auf Twitter und beobachtete auf der Kurznachrichtenplattform ein eigenartiges Ritual: Wer dort neu ist, bekommt erstmal Geschenke von Fremden – in der Form von positivem Feedback auf die selbstgeschriebenen Tweets. Andere User können diese nämlich mit nur einem Mausklick als gut bewerten („Like“) oder sogar teilen („Retweet“), negative Rückmeldungsmechanismen gibt es nicht.
Paßmann hat, ähnlich wie Malinowski die Trobriander, die deutsche Twitter-Community jahrelang als teilnehmender Beobachter erforscht. In seine kürzlich erschienene Twitter-Ethnografie fließen Paßmanns persönliche Erfahrungen und Begegnungen ein. Den Mikrobloggingdienst gibt es seit 2006; weltweit hat dieser heute mehr als 330 Millionen User, die mindestens einmal im Monat aktiv sind. Die Zahl der österreichischen Accounts wird auf rund 150.000 geschätzt.