"TRAUER, VERLUST, ANGST und AGGRESSION"
Wie reagiert eine Gesellschaft, der das Fortschrittsversprechen abhanden gekommen ist? Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz über eine selbstkritische Öffentlichkeit, Verschwörungstheorien und warum der Staat bald nur noch da sein könnte, um das Schlimmste zu verhindern

Foto: Jürgen Bauer
Die Corona-Pandemie stellt alles infrage: wie wir leben, wie wir wirtschaften, wer wir sind. Ein riesiges dystopisches Ungetüm, ja, aber keine Zäsur, wenn man Andreas Reckwitz glaubt. Der deutsche Soziologe gilt als einer der führenden Interpreten der Jetztzeit. Der Falter erreicht ihn coronabedingt per Video.
Falter: Herr Reckwitz, sind Sie Optimist?
Andreas Reckwitz: Als Soziologe versuche ich, Realist zu sein -jenseits von naivem Fortschrittsoptimismus, aber auch von Niedergangsszenarien, was die Gesellschaft angeht.
Die Zeichen stehen derzeit auf Untergang: Brexit, die Wahl Donald Trumps, der Aufstieg Chinas, Populisten überall. Und jetzt noch die Corona-Pandemie, die unsere Verletzlichkeit entlarvt. Konfiguriert die Welt sich neu?
Reckwitz: Ich bin skeptisch bei diesem schnellen Ausrufen einer neuen Epoche. Eine Epochenschwelle setzt immer einen tiefgreifenden Strukturwandel in allen Bereichen voraus, sowohl in der Ökonomie als auch in der Politik, in der Technologie, der Kultur, der Sozialstruktur. Die Individuen machen sozialen Wandel allerdings gerne an Ereignissen fest. Schon Immanuel Kant hatte ja von den "Geschichtszeichen" gesprochen. Man braucht sie sicherlich, um sich überhaupt gewahr zu werden, um erinnern zu können. Ein allgemeiner Strukturwandel, der über Jahrzehnte abläuft, ein Wertewandel oder ein ökonomischer Wandel, wird von den Teilnehmenden jedoch häufig gar nicht wahrgenommen, weil sie mittendrin leben. Entscheidende Epochenbrüche hat es in der Geschichte der Moderne nur wenige gegeben, und meistens erkennt man sie erst in der Rückschau: Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Anbruch der bürgerlichen Moderne, zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Take-off der industriellen Moderne und auch in den 1970er, 1980er-Jahren. Da beginnt das, was ich die Spätmoderne nennen würde. An dieser Epochenschwelle kreuzen sich die Globalisierung, die Digitalisierung, die Liberalisierung der Lebensstile, der neoliberale Staat und die Postindustrialisierung der westlichen Ökonomie.