Im Rausch der Vergangenheit

Am 2. November traf ein Anschlag Wiens ältestes Stadtviertel. Das heutige Bermudadreieck hat schon einiges durchgemacht. Von Kreuzfahrern, Kienmärkten und Kultlokalen

Anna Goldenberg
STADTLEBEN, FALTER 47/20 vom 17.11.2020

Foto: Önb/Erwin Pendl

Ilse Schilk wollte sich nicht erkälten. Das hat ihr das Leben gerettet. Schilk, Jahrgang 1949, ist Mitbegründerin der Initiative Ruprechtsviertel. Etwa 30 Jahre wohnte Schilk in der Judengasse in der Wiener Innenstadt, einer kleinen Straße auf dem Plateau rund um die Ruprechtskirche, bis es ihr Mitte der 2000er-Jahre zu bunt wurde oder, genau genommen, zu laut. Schuld daran waren die grölenden Jugendlichen, die vor den rund 25 Lokalen des Ausgehviertels Bermuda­dreieck die Nacht zum Tag machten. Schilk tat sich mit anderen Anrainern zusammen, um für mehr Ruhe zu sorgen. Jeden ersten Montag im Monat trifft sich die Initiative im Restaurant Salzamt am Ruprechtsplatz. Das Treffen am 2. November sagte Schilk für die ganze Gruppe ab, denn sie hätten drinnen nicht um einen Tisch gepasst. Und draußen war es ihnen zu kalt. „Glück“, sagt Schilk.

Vor zwei Wochen tötete ein Attentäter in der Innenstadt vier Menschen und verletzte 23. Den Ort wählte er bewusst. Am milden Abend vor dem Lockdown waren die Gastgärten in Wiens ältestem Viertel voll, auch jener des Restaurants Salzamt. Rabensteig, Seiten-stettengasse, Judengasse, Sterngasse, Salzgasse, Ruprechtsplatz. Wir kennen es als Ruprechtsviertel und – wegen der vielen Nachtlokale, in denen man schnell einmal verschwindet – auch als Bermudadreieck. Hier bauten die Römer einst ihr Lager, hier besteuerten die Habsburger das Salz, hier versuchten Juden die NS-Zeit zu überleben. Die Geschichte der Millionenstadt Wien verdichtet sich in diesen engen, kopfsteinbepflasterten Gassen zu einem Nebeneinander aus Hoffnung und Verzweiflung, Gewinn und Verlust, Traditionen und Fortschritt. Bis heute scheint es ein Ort zu sein, an dem die Vergangenheit mit der Gegenwart spricht und die Gegenwart gerne in die Vergangenheit rufen würde. Pass auf!, zum Beispiel. Oder: Gute Idee! Oder: Trink nicht so viel!

Gute Idee!, möchte man den Römern zurufen, die im ersten Jahrhundert nach Christus ihr Legionslager errichteten. Hier fanden sie ein ideales Plateau vor, nach Norden hin mit einem rund 15 Meter hohen Steilabbruch zum Donauarm, dem heutigen Donaukanal, begrenzt. Ein guter Blick in Richtung „Barbaricum“. Dort, wo einst das Römische Reich zu Ende war und die Germanen lauerten, sind heute der zweite und der 20. Bezirk. Weil 1945 eine Häuserreihe am Schwedenplatz weggebombt und nicht wieder aufgebaut wurde, gibt es heute vom Ruprechtsplatz wieder freie Sicht in Richtung Barbaren.

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