„Der Mensch will Erster sein, besonders der Christenmensch“

Franzobel über seinen neuen Roman „Die Eroberung Amerikas“, das grausame 16. Jahrhundert, Karl May, die USA heute sowie Schreiben als Hochleistungssport und Rauschzustand

FALTER:Woche, FALTER:Woche 5/2021 vom 02.02.2021

Foto: Julia Haimburger

Der Autor Franzobel ist Sprachspieler und Erzähler in Personalunion. In seinen letzten Büchern fand er zu einer guten Balance aus ausuferndem Formulierungsdrang und dem Hang zur Pointe auf der einen sowie spannenden Themen und Plots auf der anderen Seite.

Die Kritik ging nicht immer gnädig mit ihm um. Das lag oft weniger an seinen Texten als an der öffentlichen Figur Franzobel, die sich gern am Opernball und in den „Seitenblicken“ zeigte. Inzwischen lässt es der in Wien lebende Oberösterreicher ruhiger angehen. Mit „Die Eroberung Amerikas“ legt er einen Abenteuerroman vor, der unterhaltsam ist und gleichzeitig große Fragen wie den Kolonialismus verhandelt.

Falter: Der Held Ihres neuen Romans „Die Eroberung Amerikas“ ist der spanische Eroberer Hernando Desoto. Mein zwölfjähriger Sohn hat in Geschichte gerade die frühe Neuzeit durchgenommen. Kolumbus ist natürlich vorgekommen, auch Fernando Pizarro. Von Desoto war keine Rede. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

Franzobel: Ich kannte ihn auch nicht, habe zufällig den Fernseher aufgedreht und hörte auf 3sat: „Der erfolgloseste Eroberungszug der spanischen Conquista.“ Das hat mich angestachelt. Bald habe ich herausgefunden, dass dieser Desoto die gesamte spanische Eroberung in sich vereint. Er war in Panama, dann mit Pizarro in Peru und schließlich in Florida. Als ich erfuhr, dass bei Desotos Eroberern eine als Mann verkleidete Frau dabei gewesen ist und man bald auf einen Spanier stieß, der zehn Jahre bei einem Indianerstamm gelebt hat, wusste ich, das ist ein spannendes Thema.

Hat Sie auch gereizt, dass Desoto unter den Eroberern der große Loser war?

Franzobel: Natürlich, das ist literarisch weitaus spannender als eine reine Erfolgsgeschichte. Seine Expedition nach Florida von 1538 bis 1542 war eine einzige Katastrophe. Gute Literatur braucht Abgründe, Tiefen. Ich empfinde eine fast zärtliche Liebe für Gescheiterte, aber das geht wohl vielen Autoren so.

Sie schreiben, dass das 16. Jahrhundert die brutalste Zeit überhaupt gewesen sei. Woran lag das?

Franzobel: Die Glaubenswerte wurden durch Reformation, Heliozentrismus oder Atomismus radikal infrage gestellt. Als Reaktion hat man mit allen Mitteln versucht, die Macht der Kirche und der Obrigkeit zu behaupten. Auch das 20. Jahrhundert war brutal, und das Mittelalter gilt als dunkel und grausam. Aber die frühe Neuzeit schlägt in Sachen Gewalttätigkeit wohl alles. Rädern, Pfählen, Vierteilen, Scheiterhaufen.

In Ihrem Roman findet sich der schöne Satz „Die Chance ist gering, heutzutage einen Menschen des 16. Jahrhunderts zu treffen“. Die Literatur macht’s möglich. Tauchen wir deshalb so gern in historische Romane ein?

Franzobel: Auf jeden Fall. Es ist aufregend, sich in eine andere Zeit hineinzuversetzen. In historischen Romanen findet sich, wenn sie gut recherchiert sind, viel unbekanntes Wissen. Gleichzeitig bekommen wir über den Vexierspiegel dieser früheren Epoche einen anderen Blick auf unsere Gegenwart. Das finde ich besonders reizvoll.

Sie vermischen Fakten mit Fiktion und erzählen aus der Gegenwart heraus, also mit dem heutigen Wissen, von der Vergangenheit. Was ist die Idee dahinter?

Franzobel: Diese Erzählform hat sich bei meinem Roman „Das Floß der Medusa“ ergeben. Ich habe beim Schreiben zuerst versucht, die Sprache der Zeit um 1800 zu imitieren, die Klassiker und Romantiker. Das hat aber überhaupt nicht funktioniert, es klang entsetzlich gespreizt. Beim neuen Buch geht es noch viel weiter zurück. Die Sprache der frühen Neuzeit war ziemlich gestelzt. In dem Stil könnte ich nicht schreiben. Die Perspektive aus der Gegenwart heraus finde ich schlüssig, schließlich lebe ich im 21. Jahrhundert und schreibe für heutige Leser. Außerdem beschert mir dieser Zugang viele Freiheiten: Muss ich nicht überprüfen, ob eine Metapher zu der betreffenden Zeit bereits existiert hat, kann ich den Text heutiger machen.

Ganz konsequent sind Sie nicht.

Franzobel: Für Gedankenströme von Figuren habe ich mit historischem Sprachmaterial gearbeitet. Das sind die kursiv gesetzten Passagen. Auf den Film umgelegt wäre das die kleine Handycam, womit ich den Personen ganz nahekomme, während die Totale der gegenwärtige Erzähler ist. Momentan ist mir das die liebste Erzählform, eine Mischung aus Dogma und Hollywood.

Welche falschen Bilder haben wir über die Zeit der Eroberer im Kopf?

Franzobel: Wir sind stark von Karl-May-Filmen geprägt. Wenn man an Indianer denkt, sieht man jaulende, Büffelherden jagende Reiter. Das war jedoch so nicht der Fall. Die Pferde kamen erst mit Desoto ins Land. Ich bin auch auf skurrile Dinge gestoßen. Karl V., der diese Züge losgeschickt hat, soll einen enormen habsburgerschen Unterbiss gehabt haben. Er konnte sich kaum verständlich artikulieren und brauchte Berater, die sein Gebrabbel ausdeutschten. Solch skurrile Details sind für einen Romanautor ein gefundenes Fressen.

Sie sind Ihren Figuren auch nachgereist. Ist es wichtig, die Schauplätze zu kennen?

Franzobel: Ein Text wird authentischer, wenn man einen Ort gesehen, gerochen und gespürt hat, anstatt ihn nur auf Google Maps zu besuchen. Ich habe auf Reisen keine bestimmten Ziele, will Geschichten hören und Orte empfinden. Das macht die Erzählung plastischer. Karl Mays Methode hat natürlich auch etwas für sich. Der ist nirgendwo gewesen und hatte trotzdem ein Museum mit lauter fiktiven Gegenständen, die er angeblich von seinen exotischen Reisen mitgebracht hat. Ein bisschen Flunkerei gehört immer auch dazu.

Wo hat es Sie überall hinverschlagen?

Franzobel: Zuerst in die spanische Extremadura, wo die meisten Eroberer herkamen. Das kann man sich wie das Burgenland Spaniens vorstellen, eine sehr arme Gegend. Dann Andalusien, wo Desotos Männer zum letzten Mal Land gesehen haben, bevor es auf den Atlantik hinausging. Weiters war ich auf Kuba, da haben die Eroberer Zwischenstation gemacht, und in den südlichen Staaten der USA. Ich habe die Expedition einigermaßen nachverfolgt, war in Tampa Bay, wo sie gelandet sind, fuhr rauf nach South und North Carolina, rüber zum Mississippi, nach New Orleans und Texas. Außerdem war ich in Algerien und habe für die Piratengeschichte im Buch recherchiert. Und dann noch Panama, Kolumbien und Brasilien, um ein Gefühl für die Indigenen zu bekommen.

Haben Sie in den USA irgendwelche Spuren der indigenen Ureinwohner gefunden?

Franzobel: Nein, nichts. In den nördlichen Staaten gäbe es wahrscheinlich mehr. Im Süden war es bloß Folklore und Touristenkitsch. Richtige Zentren, Communitys oder Museen habe ich nicht gefunden. In Südamerika ist die Geschichte der Indigenen wesentlich präsenter.

Ihr Roman spannt einen Bogen zu den USA heute. Es gibt einen Handlungsstrang, in dem ein Anwalt versucht, die ganze Nation an die Nachfahren der getöteten oder vertriebenen Indianerstämme zu restituieren.

Franzobel: Als ich begonnen habe, dachte ich nicht, dass dieses Buch großen Bezug zur Gegenwart bekommen würde. Mich haben der Abenteuer-Plot und das 16. Jahrhundert interessiert. Es gab dann aber sehr viele Kolonialismus- und Restitutionsdebatten, Black Lives Matter fällt da auch hinein. Also habe ich den Gedanken weitergesponnen: Mit der Restitution von Häuptlingsschmuck oder sakralen Gegenständen kann es nicht getan sein, man muss das ganze Land auf Rückgabe klagen. Der Ausgang ist eine schöne Schlusspointe des Romans.

Inwiefern hat sich bei Ihrer USA-Reise die Ära Trump bemerkbar gemacht? Wie waren die Leute drauf?

Franzobel: Ich muss gestehen, ich war in einer Bubble und hatte vor allem mit liberalen Universitätsmenschen zu tun. Bestimmt habe ich auch Trump-Wähler getroffen, jedoch ohne es zu bemerken, die haben ja nicht alle gelbe Perücken auf. Die Amerikaner sind überbordend freundlich. All die Liberalen haben zwar gesagt, es sei schrecklich, wie sich die Stimmung unter Trump drehe, aber in ihrem Leben habe sich wenig geändert. Ein seltsamer Widerspruch, aber im Grunde wie bei uns, wenn die FPÖ in der Regierung ist. Man ist bass erstaunt über den vulgären Ton und könnte sich wegen mancher Sager jeden Tag drei Mal übergeben, aber sonst ist zuerst einmal wenig zu bemerken. Gott sei Dank war die FPÖ nie länger an der Macht.

Zurück zu Desoto. Es fällt aus heutiger Sicht schwer, diese unglaublich zerstörerischen Eroberungsfeldzüge zu verstehen. Ist es Ihnen gelungen?

Franzobel: Zum Teil. Desoto war wohl primär auf Gold aus. Vielleicht wollte er der reichste Mann auf Erden werden. Sein Zug war ein Haufen von Abenteurern, die nicht viel zu verlieren hatten. Sich einem fremden, überhaupt nicht erschlossenen Kontinent auszusetzen, ist ähnlich, wie wenn wir heute zum Mars fliegen. Es gab keine Sicherheit, keine Rückkehrgarantie. Diese Leute hatten enorm viel Mut, vielleicht auch Verzweiflung. Gleichzeitig waren sie von Unerbittlichkeit und Gier getrieben. Und es ging ihnen darum, eine Pioniertat zu vollbringen. Der Mensch will Erster sein, besonders der Christenmensch, das ist ihm inhärent. Neue Länder zu erschließen war für den Fortschritt wichtig, hat aber auch unglaublich viel zerstört.

Den jungen Desoto beschreiben Sie als feinfühlig. Als er seine ersten Massaker miterlebt, wird ihm noch schlecht. Aber er gewöhnt sich schnell daran. Was können wir daraus über den Menschen lernen?

Franzobel: Ich glaube nicht, dass der Mensch böse geboren wird. Es kommt eher durch Abstumpfung und Gewöhnungseffekte zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Vielleicht kommen noch Enttäuschungen und Zurückweisungen hinzu. Dafür ist Desoto typisch. Er hat als Sanftmütiger angefangen und sich zum Karriere- und Machtmensch entwickelt, vergleichbar den heutigen Wirtschaftsführern, bei denen es nur um Profit und Wachstum geht.

Thematisch müsste einen „Die Eroberung Amerikas“ runterziehen. Tatsächlich geht es in Ihrem Roman oft sehr lustig zu. Weil es anders nicht zu ertragen wäre?

Franzobel: Es ist wichtig, dass man über tragische Sachen auch lachen kann. Für mich ist das der einzige Weg. In meinem Büchern wird es sowieso oft lustig. Wahrscheinlich suche ich mir deshalb so ernste Themen.

Einmal wird jemand ein Bein abgeschnitten. Das ist wie bei Monty Python.

Franzobel: Manche Brutalitäten sind verstörend, aber auch in Berichten aus der Zeit stößt man immer wieder auf solch absurde Stellen. Da bluten Leute aus allen Löchern und verkünden: „Jetzt geht der Kampf erst los.“ Die Amputation fand ich medizinisch interessant. Man hat die Haut zur Seite geschlagen und damit dann den Stumpf geformt. Skurril, aber es befriedigt eine gewisse Neugierde.

Sind Sie mit Abenteuerromanen aufgewachsen?

Franzobel: Gar nicht. Geprägt haben mich die „Winnetou“-Verfilmungen. Gelesen habe ich Karl May erst später durch Vermittlung von Arno Schmidt, der die sexuellen Konnotationen aufgedeckt hat. Bei May finden sich sehr viele „feuchte Spalten“ und „Ritzen“, überall tropft es und ist es glitschig. Als Kind habe ich vor allem Micky Maus gelesen. Von da bin ich über Mad mit 14, 15 gleich zur Literatur gekommen. Die Kinderliteratur habe ich übersprungen, die war mir zu didaktisch.

Lässt sich das Schreiben mit dem Erobern vergleichen?

Franzobel: Ja. Das Schreiben ist ein Marsch ins Unbekannte. Am Anfang eines Romans vermutet man Schätze in einem fernen Land. Zuerst ist man voller Hoffnung, dann merkt man, es ist mühsam und oft geht nicht viel weiter. Man hat Angst durchzudrehen, will umkehren oder alles hinwerfen. Dann tut sich wieder etwas auf, ein Weg. Im Gegensatz zum Erobern ist das Romanschreiben eine einsame Tätigkeit. Ich gebe ein Buch erst aus der Hand, wenn ich es abgeschlossen habe. Dementsprechend lange weiß ich nicht, ob es Katzengold oder wirklich Gold ist, was ich gefunden habe.

Sie sind vor gut 25 Jahren, als Sie für „Die Krautflut“ den Bachmann-Preis bekamen, auf der Bildfläche aufgetaucht und waren seither extrem produktiv. Wo stehen Sie gerade in Ihre Laufbahn?

Franzobel: Ich bin 53. Ich habe einmal gelesen, die großen Romane werden zwischen 40 und 60 geschrieben. Wahrscheinlich bringt man später die Energie nicht mehr auf. Bei der Arbeit an einem Roman wie „Die Eroberung Amerikas“ gibt es Phasen von einer ungeheuren Intensität, wo ich nur mehr in diesem Text lebe und eine extreme Gleichzeitigkeit fühle. Ich habe dann jede Szene, fast jeden Dialog im Kopf. Das ist Hochleistungssport und geht auch körperlich an die Substanz. Ein Schreibrausch, den ich liebe. Aber ich glaube nicht, dass man das mit 70 noch leisten kann. Insofern ist die Zeit limitiert. Drei, vier große Eroberungen würde ich gern noch machen.

Oder Sie werden wieder kürzer. Ihr Debüt hatte schlanke 96 Seiten.

Franzobel: Und davon waren auf 40 Seiten Bilder! Ich mache immer noch kürzere Sachen für Kleinverlage, vor allem Dialekt-Texte. Meine Stärke sehe ich jedoch auf der Langstrecke. Ich liebe es, wenn sich Plots zusammenfügen, etwas aufgeht. Ich bin ja kein Doderer, bei dem alles geplant ist. Ich bin instinktiver, schaue, was den Figuren und was mir im Leben passiert.

Apropos: Im Nachwort schreiben Sie von einer Lebenskrise.

Franzobel: Die Trennung von meiner zweiten Frau hat mich ziemlich mitgenommen. Zum Glück habe ich bald eine neue Liebe gefunden. Raymond Queneau hat sinngemäß einmal gesagt: „Man kann nur schreiben, wenn man ein geordnetes Leben hat.“ Bei mir ist das so. Ich hatte nach der Trennung einen Hörsturz und konnte eine Weile lang gar nichts tun. Ramona, meine inspirierende neue Beziehung, und das ­Schreiben haben mich gerettet. Ich brauche ein emotionales Nest.

Wann werden Sie Ihr Buch vor Publikum präsentieren können?

Franzobel: Vermutlich erst im Sommer. Dabei liebe ich Veranstaltungen. Die Lesung an sich ist oft Routine, aber danach mit animierten Leuten etwas trinken zu gehen, ist großartig. Da kommen tolle, inspirierende Gespräche zustande. Diese Begegnungen gehen mir unendlich ab.


Zur Person Franzobel

wurde 1967 als Franz Stefan Griebl in Vöcklabruck geboren. Er besuchte eine HTL für Maschinenbau und studierte in Wien Germanistik. In jungen Jahren versuchte er sich als bildender Künstler. Der Vielschreiber hat mehr als 70 Bücher verfasst, zu den bekanntesten zählen die Romane „Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik“ (2006) und „Das Floß der Medusa“ (2017). Franzobel war zwei Mal verheiratet und hat zwei Söhne


Franzobel: Die Eroberung Amerikas. Zsolnay, 544 S., € 26,80

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