Liebe Dora,
Als Kind schrieb unser Autor – furchtbar verliebt – einen Brief an ein Mädchen. Eine Antwort bekam er nie. Das Briefeschreiben hat ihn seit damals nicht losgelassen

Foto: Gabriel Proedl
Ich muss 13 gewesen sein, als mein Lehrer in der Französischstunde fragte, wer von uns regelmäßig Briefe schreibe. Niemand meldete sich. Und wer würde gerne Briefe bekommen? Dora, eine Mitschülerin, streckte ihren Rücken beim Aufzeigen durch, um die Hände der anderen zu überragen. Ich war seit Wochen in Dora verliebt. Sie war gut in der Schule, ohne ständig zu lernen, war sportlich, blitzgescheit, beliebt und dennoch reserviert; sie war keine, die allen um den Hals fiel. Ich versuchte immer wieder, mit ihr zu plaudern, umarmte sie, wann immer es ging – und schrieb ihr nach der Französischstunde meinen ersten Brief. Eine Antwort bekam ich nie.
Aus uns wurde nichts, doch die Liebe zum Briefeschreiben ist gewachsen. Jetzt bin ich 22 und schreibe immer noch, an Freunde und Bekannte – meist bekomme ich eine Antwort. Ich mag diesen niedergeschriebenen Gedankenaustausch, das Warten auf die Erwiderung, das Tagebuchschreiben mit Dialogpartner. Früher kannte ich kaum jemanden, der Briefe schrieb, doch jetzt, während der Pandemie, ändert sich das: Auf Twitter posten Jugendliche, dass sie ihren Großeltern schreiben, statt sie zu besuchen, kirchliche Einrichtungen veranstalten Briefschreibaktionen für Schulklassen an Altersheime, und mehrere Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder schreiben, um mit Schulfreunden in Kontakt zu bleiben. Alle schreiben sie jetzt. Ich fühle mich wie der Fan einer Indie-Band, die gerade ihren Durchbruch hat.