PORTISCH UNSER
Er erklärte uns die Welt und kämpfte für Pressefreiheit. Über das große Vermächtnis der Journalistenlegende Hugo Portisch
Drama ohne Ende: Die 17. Staffel der Arztserie „Grey’s Anatomy“ (unser Foto zeigt, wie alles begann) läuft ab 21.4. auf Disneys jüngst lanciertem Kanal Star (Foto: DISNEY+ STAR)
Über manche Zahlen spricht man lieber als über andere. Vor allem wenn es nicht die wöchentliche Inzidenz, sondern monatliche Abonnements betrifft. Zumindest im Streamingbereich, wo sich die großen kommerziellen Anbieter über regionale Zahlen bedeckt halten, während sie sich international mit Erfolgsmeldungen überbieten. Denn weltweit überschreiten Disney und Co derzeit – nicht zuletzt durch die Pandemie beschleunigt – eine Millionengrenze nach der anderen.
Die schier explodierende Anzahl von Neuerscheinungen an Serien und Filmen auf den diversen Plattformen macht deutlich: Hier wird schon seit einiger Zeit ein Wettbewerb ausgetragen, für den die Bezeichnung „überhitzt“ nur eine Untertreibung sein kann. Während Netflix mittlerweile die 300-Millionen-Marke überschritten hat, konnte Disney+ unlängst stolz verkünden, immerhin die ersten 100 Millionen Abonnements verkauft zu haben. Ungeachtet dessen bleibt – zieht man realistische Vergleichswerte heran – hierzulande Netflix nach wie vor der Platzhirsch. Doch um den wöchentlich neu zu füllenden Futtertrog wird heftig gerangelt. Und die diversen Wilderer mit alternativem Angebot sollte man auch nicht ganz aus den Augen lassen.
Disneys jüngst lancierter Serien- und Filmkanal Star, der „Entertainment für jede Stimmung“ (sic!) verspricht, ist ebenfalls ein Kind seiner Zeit. Mehr als 270 Filme umfasst der neue Ableger für die Erwachsenenunterhaltung, für den Disney auf die im Kaufrausch der vergangenen Jahre angewachsene eigene Backlist zurückgreift: Über 50 teils klassische Fernsehserien finden sich hier; dazu zum Start selbstverständlich eine Handvoll aktueller Vorzeigeproduktionen, etwa David E. Kelleys prestigeträchtige Thrillerserie „Big Sky“ oder das Kloster-Mysterydrama „Black Narcissus“. Und über die Ankündigung nationaler Koproduktionen, wie sie Netflix in mehreren europäischen Ländern bereits praktiziert, kann sich die regionale Filmwirtschaft freuen. Das klingt so, als würde man in Entenhausen strategisch alles richtig machen, verweist jedoch akkurat auf jenes Problem, das alle kommerziellen Streaminganbieter teilen: Man verkauft keine Serien und Filme, sondern nach wie vor Abonnements.
Wem das als Streamingverweigerer nicht prinzipiell egal ist oder wer nicht bereits fünf Abos bezahlt, für den drängt sich allerdings seit längerem die Frage auf: Wer soll sich das eigentlich noch anschauen? Und wo am besten, da ja viele Titel – Filme und Serien – mittlerweile bereits auf den verschiedenen Plattformen zu finden sind? Und nicht zuletzt: Gibt es zwischen den großen Anbietern mit US-Firmensitz eigentlich noch irgendwelche relevanten Unterschiede hinsichtlich dessen, was man früher als „Programm“ bezeichnet hätte, wofür aber der Begriff „Warenkorb“ längst zutreffender ist?
Spätestens an diesem Punkt müsste jene Differenzierung stattfinden, die leider oft genug ausbleibt, und zwar bei Streamingfans ebenso wie bei ausgewiesenen Skeptikern. So behauptet etwa der deutsche Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner in seinem im vergangenen Herbst erschienenen Buch „Streamland“, dass es gar keine Rolle spiele, welchem Großkonzern man sein Geld in den Rachen stopfe. Denn im Prinzip würden sie alle unmündige Konsumenten produzieren, die sich dem Algorithmus unterwerfend nur noch Serien und Filme ansehen würden, die den eigenen Vorlieben entsprächen. So weit, so bekannt. Man nannte es Blase.
Deutlich interessanter klingt, was Kleiner darüber hinaus beschreibt – und als Untertitel seines Buches zusammenfasst: wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen. Wer sich bei seinem Medienkonsum stets darauf verlässt, was andere für ihn aussuchen, sei irgendwann zu keinen eigenständigen Entscheidungen mehr fähig, lautet die These. Was wiederum auch demokratiepolitisch höchst bedenklich sei, da sich die Entscheidungsunfähigkeit in der Folge nicht nur auf den Medienkonsum beschränken würde.
Eine tiefe Kerbe, in die Kritiker der Streamingdienste regelmäßig schlagen. Allerdings kommt sie einem Totschlagargument gleich, das davon ausgeht, dass sich willenlos Konsumierende nur noch ansehen würden, was ihnen mittels automatisiertem Rechenvorgang passgenau präsentiert wird. Dieser Kulturpessimismus erinnert an die klassische 1980er-Jahre-Kritik von Neil Postman an der Unterhaltungsindustrie, mit der wir uns zu Tode amüsierten – oder an jene von Hans Magnus Enzensberger am Fernsehen als Nullmedium, über das alle Klagen gegenstandslos wären, weil „gegen die innige Allianz von Kunden und Lieferanten kein Kraut gewachsen“ sei.
Doch dass die bösen Streamingdienste einem ein nur noch für einen selbst schmackhaftes Menü servieren, ist nur die halbe Wahrheit. Dieses Problem – so man es als solches wahrhaben will – betrifft keineswegs nur das Streaming im Besonderen, sondern auch den Umgang milliardenschwerer Konzerne mit unseren Nutzerdaten und Kundenprofilen im Allgemeinen. Wobei es letztlich immer noch meine Entscheidung bleibt, ob ich mir auf Net-flix etwa Ava DuVernays Miniserie „When They See Us“ oder „Barbaren“ anschaue. Soll heißen: Ich habe die Wahl, sofern Vielfalt geboten wird.
Weiters mag es wohl stimmen, dass man sich früher für einen Kinobesuch genau überlegt hat, wo und für welchen Film man sein Geld ausgeben wollte. Doch spätestens, seit ein wesentlicher Teil der Kinolandschaft der spontanen Freizeitgestaltung dient, fällt auch die Entscheidung vieler Kinogänger für einen beliebigen Film mit der angenehmsten Beginnzeit erst auf der Rolltreppe im Einkaufszentrum.
Tatsächlich ist es keine Neuigkeit, dass die führenden Anbieter Netflix, Disney+ und Amazon vor allem auf Quantität setzen, auf Masse statt Klasse, oder mit einem nach Sparten geordneten Hochglanzkatalog werben. Doch eben deshalb sind die kleineren, wiewohl ebenso kommerziellen Plattformen oft qualitativ im Vorteil (was auch die Serienberichterstattung in dieser Zeitung abbildet).
So enthält das überschaubare Angebot von Apple TV+ wiederholt bemerkenswerte Serien wie die Geschichten über US-Einwanderer in „Little America“ und solche mit Autorenhandschrift (zuletzt die israelischen Produktionen „Tehran“ oder die Neo-Noir-Reihe „Losing Alice“), während sich Sky nach wie vor durch seinen Vertrag mit dem US-Bezahlsender HBO mehrheitlich exquisite Qualitätsware mit Hollywood-Starbesetzung sichert, beispielsweise den New-York-Whodunit „The Undoing“ und die Justizkrimiserie „Your Honor“. Da können die populärsten Netflix-Serien des vergangenen Jahres, von „The Queen’s Gambit“ bis „Bridgerton“, qualitativ schon deshalb nicht mithalten, weil sie, auf ein größeres Publikum schielend, eine völlig andere Marketingstrategie verfolgen müssen.
Doch was bedeutet der Streamingboom für Hollywoods schon vor der Pandemie einsturzgefährdendes Tentpole-System, bei dem Produktionen mit hohem Budget den schwächelnden Rest stützen sollen? Es ist eine Frage, die sich nicht so einfach mit der zunehmend mühsamen Diskussion über das vom Streaming mitverursachte Ende des Kinos beantworten lässt.
Das Filmstudio Warner Bros. will seine Produktionen in den USA nicht mehr wie bisher zuerst im Kino, sondern gleichzeitig auch auf der hauseigenen Plattform HBO Max zugänglich machen, die voraussichtlich ab der zweiten Jahreshälfte 2021 auch in Europa verfügbar sein soll. Branchenintern kam diese Ankündigung einem mittleren Erdbeben gleich. Während der heftigsten Krise in der Geschichte des Kinos wird damit dessen klassische Vertriebsstruktur ausgehebelt; zudem dürfte sich die Parallelverwertung unmittelbar darauf auswirken, welche Filme man überhaupt noch zu sehen bekommt. Denn auch wenn Ausnahmen wie Martin Scorsese, mittlerweile von Apple unter Exklusivvertrag genommen, für sein neues Projekt „Killers of the Flower Moon“ angeblich 180 bis 200 Millionen Dollar ausgeben darf – welche Filme man als Streaming sehen kann, wird eine Frage des Geldes, also dessen gewinnorientierten Einsatzes, sein.
Großproduktionen, die zuletzt für die „Rettung“ des Kinos nominiert wurden, wie Christopher Nolans „Tenet“ (ab 23.4. auf Sky) oder das bereits mehrmals verschobene Bond-Abenteuer „No Time to Die“ dürften zukünftig eher nicht im Wohnzimmer mit überwältigenden Ton- und Bildeffekten klotzen. Und zwar nicht nur deshalb, weil da und dort im Heimkino vielleicht ein halbes Dutzend Dolby-Atmos-Boxen fehlt, sondern weil derartige Filme für das Flatrate-System der Streamingdienste schlicht zu teuer sind.
Apple und Netflix mögen wohl mehrere 100 Millionen Dollar für die angeblich fieberhaft erwartete Streamingpremiere des 25. James-Bond-Films geboten haben. Doch kein Streamingdienst der Welt kann die Kosten solcher Filme – egal ob eigenproduziert oder zugekauft – mit einem monatlichen Pauschaltarif amortisieren, wenn der Vorsprung durch die Kinoverwertung, bei der traditionell pro Kopf kassiert wird, wegfällt. Ist das der Anfang vom Ende des Blockbusters, wie er in den vergangenen 50 Jahren die Ökonomie und die Ästhetik eines Kinos für die Massen geprägt hat?
Einiges deutet zumindest darauf hin. Die derzeit kursierende Idee vom Programmkino als öffentlich subventioniertes Museum, das als Filmkulturfels der Streamingbrandung standhält, mag freundlich gedacht sein, ist aber eher etwas für Beschwörungstheoretiker. Wahrscheinlich ist, dass nach einer heftigen Durchmischung entweder letztlich alles im Streaming mit neuem, also teurerem Bezahlmodell landen wird; oder man für ausgewählte Produktionen zur alten Verwertungsstruktur zurückkehrt.
„Selbst auf dem Gebiet der Massenkultur gibt es immer auch eine gegenläufige Strömung, die versucht, dem Gefühl von unvermeidlichem Scheitern Ausdruck zu verleihen“, schrieb bereits vor 70 Jahren der legendäre New Yorker Essayist und Filmpublizist Robert Warshow in „Die unmittelbare Erfahrung“.
Ist eine solche gegenläufige Strömung auch in jener Bilderflut denkbar, die sich heute auf unzähligen Streamingkanälen über unsere Bildschirme ergießt? Man muss jedenfalls genau hinschauen, um sie ausfindig zu machen. Doch es lohnt sich, eine Zeit lang mit ihr gegen den Strom zu schwimmen.F