Im Astra-Zeneca-Fieber

Die Musikerin Marlene Lacherstorfer hat im Lockdown neben der Wohnung auch ihre Seele aufgeräumt

AUS MEINER FESTUNG: MARLENE LACHERSTORFER
FALTER:WOCHE, FALTER 17/21 vom 28.04.2021

Foto: René Mühlberger

Die Anfrage zu diesem Text kam unmittelbar vor meiner ersten Impfung. Drei Probetage in Berlin wurden verschoben (was sonst), das trifft sich gut, ich habe das Wochenende frei. Warum nicht im Astra-Zeneca-Fieber über mein Leben reflektieren? Zuerst bin ich etwas enttäuscht, dass es nicht sofort eintritt, dann erwischt es mich umso heftiger, doch noch bevor der erste Entwurf verfasst ist, bin ich wieder wohlauf.

Die Gelenksschmerzen am Wochenende kamen von der Impfung, die Genickschmerzen von der ersten Ausfahrt auf einer Royal Enfield. Ich auf einem Motorrad? Man versucht, sich das Leben spannend zu halten. Wenn gar nichts mehr geht, gibt es zum Glück die Möglichkeit, mit dem Campingbus abzuhauen. Campen hat sich als sinnvollste Art erwiesen, in der Pandemie zu urlauben. Und arbeiten kann man darin auch - ich liebe diesen minimalistischen Lebensstil.

Wie halte ich mich während all der Zeit am Monitor bei Laune? Mit dem Besuch von Onlinekongressen, Arbeitsgruppen und Fortbildungen, an denen ich immer schon teilnehmen wollte, das aber bei 100 Konzerten jährlich nicht geschafft hätte. Oder wir verziehen uns aufs Land, wenn wir es mit uns selber nicht mehr aushalten.

Als ich mich im ersten Lockdown auf die neue Langsamkeit eingestellt hatte, fing ich an, neben der Wohnung auch die Seele aufzuräumen. Die emotionalen Zustände, die ich im letzten Jahr manchmal täglich durchlebte, übersteigen meine Schwankungsbreite der gesamten zehn Jahre davor. Ich bin nicht anspruchsvoll oder suchtgefährdet, aber ein Konzert pro Monat ist Minimum für meine psychische Gesundheit. Ich brauche meine Konzerteuphorie, ich brauche meine Dosis Endorphine. Andere Kreative haben ihre Kraft durch Corona in der Einsamkeit gefunden und künstlerisch so richtig losgelegt. Mir hingegen wurde klar, dass ich ein Teamplayer bin.

Apropos Team: Teil der neuen Normalität ist ja leider, dass Menschen alleine und am Limit sind - und sich vielleicht sogar dafür schämen. Das floskelhafte "Wie geht's?" löst nun oft lange, tiefgründige Gespräche aus. Man will es wirklich wissen und im Gegenzug von eigenen Abgründen erzählen. "Das kenne ich auch" zu hören, kann sehr befreiend sein. Sind die Menschen vielleicht doch offener und toleranter geworden, oder bin ich eine hoffnungslose Optimistin?

Wenn ich live unterrichten darf, was an der Uni zumindest eingeschränkt möglich ist, merke ich, wie sehr derzeit alle den Austausch brauchen. Entsprechend mehr Zeit plane ich ein. Nicht selten erlebe ich Tränen in Zoom-Meetings, die von Stagnation und Aussichtslosigkeit erzählen. Die Unbeschwertheit scheint uns allen abhandengekommen zu sein. Unvorstellbar, wie es einem Großteil der Weltbevölkerung fernab unserer westlichen Insel der Seligen gehen mag.

Im Dezember kam seltsamerweise von gleich zwei ORF-Kabarettformaten die Anfrage, sie musikalisch zu unterstützen. Kabarett war mir bisher eher fremd, ich habe in erster Linie aufgrund einer scheinbaren "Corona-Sicherheit" dieser Jobs zugesagt. Im Nachhinein merke ich einerseits, wie gut es getan hat, wieder über einen längeren Zeitraum im Team zu arbeiten; andererseits nehme ich seither die wohltuende Wirkung des Lachens auf den Körper bewusst wahr. Welche wichtige gesellschaftliche Rolle Komik in Zeiten der Krise spielt, hat ja Charlie Chaplin schon bewiesen.

Mit artiger Angepasstheit kann man mich jagen. Nur ist es gerade schwierig, abseits von Verschwörungen eine gesunde, aber kritische Grundhaltung zu finden. Mit einem zu Silvester analog gedrehten Musikvideo haben wir uns dann mitten im Weihnachtslockdown als arbeitende Ein-Personen-Unternehmen einen Traum erfüllt.

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Der Song "LUS U" von René Mühlbergers Projekt Pressyes, bei dem ich Bass spiele, handelt von der Angst, die Verbindung zu Menschen zu verlieren - davon könnten wir gerade alle ein Lied singen. Die Bilder dazu sollten eine traumhafte Ästhetik zum Ausdruck bringen, die meiner Timeline gerade fehlt. René hat sich seit dem vergangenen Sommer in die 16-mm-Analogfilmmaterie eingearbeitet und in Foren abgenerdet. Eine knappe Woche lang waren wir mit einer fünf Kilo schweren Aufziehkamera aus den 1960ern zum Drehen auf Malta und haben uns - ganz ohne Drehbuch, dafür unter Einhaltung aller Auflagen - von schönen Plätzen inspirieren lassen.

Wir haben uns mit dem Video zu "LUS U" eine kleine Festung der Leichtigkeit gebaut. Es soll der Pandemie zum Trotz ein visuelles Statement verspielt-melancholischer Lässigkeit setzen. Seid vorsichtig, aber durchlässig und lasst euch vor allem das Leben nicht vermiesen, wollen diese Bilder sagen.


Marlene Lacherstorfer,

Jg. 1982, stand als freiberufliche Musikerin in Formationen wie Velojet, Alma, Clueso oder Ernst Moldens Frauenorchester jahrelang fast permanent auf der Bühne und übernahm 2019 die musikalische Leitung der Eröffnung der Wiener Festwochen. Die Bassistin lehrt zudem an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien

In der Reihe "Aus meiner Festung" erzählen lokale Kulturschaffende in der Falter:Woche von ihrem Alltag unter Pandemiebedingungen

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