Ein halber Liter Campari Soda
Die Musikerin und Theaterregisseurin Anna Marboe hatte in den vergangenen Monaten zu viel Zeit zum Nachdenken. Das Leben findet sie trotzdem schön
Benvenuto!" "Ciao!" "Arrivederci!" Das Handy macht Dingding, und der virtuelle Sprachtrainer Luigi lobt mich für meine tolle Aussprache. "Continua cosi" sagt er mit wohlwollender Gleichgültigkeit in der Computerstimme, und ich freue mich über so viel Resonanz. Paolo Conte läuft im Hintergrund, ich leere den Campari Soda, Campari Soda auf einen halben Liter gespritzt ist die perfekte Mischung Wien und Italien, die man für einen einsamen Online-Italienischkurs im Lockdown in der schlafenden Hauptstadt braucht.
Von den nächsten zehn Vokabeln schaffe ich nur zwei, und Luigi klingt enttäuscht. "Forza Anna, puoi fare di meglio!", und ich weiß nicht, ob es stimmt, dass ich es viel besser könne. "I saluti sono importante in tutte le situazioni sociali." Die Worte verhallen zwischen den leeren Pizzakartons, Paolo singt "Via Con Me", ich werfe das Handy aufs ungemachte Bett, genug gelernt für heute.
Also: Ja, ich bin eine von denen. Eine von denen, die vor einem Jahr dachten, toll, endlich eine Sprache lernen. Eine von denen, die dachten, toll, endlich Klavier lernen, endlich Gnocchi selber machen, endlich Zeit zum Liederschreiben, endlich "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace lesen. Und ich bin auch eine von denen, die dann draufgekommen sind, dass Spaß einfach kein Spaß ist, wenn er unendlich dauert. Was nicht heißen soll, dass mein Optimismus gestorben wäre, dass ich meinen Glauben an die Kunst oder meine Liebe zu den Menschen verloren hätte.
Ich könnte jetzt zwar zugeben, dass ich "Unendlicher Spaß" dann doch nicht fertig gelesen habe, dass ich am Klavier noch immer nur weiße Tasten spiele, dass die selbstgemachten Gnocchi steinhart waren und ich den Satz mit den "situazioni sociali" bei Google Translator eingeben musste - die Grußfloskeln sind in allen sozialen Situationen wichtig -, aber das tue ich an dieser Stelle einfach nicht.
Man hört so viel von Einsamkeit, von Kreativitätsverlust, von der Sinnkrise, in denen Musiker*innen und Theaterschaffende stecken, weil ihre Kunst eine darstellende ist und sich natürlich die Frage stellt, was es für diese Kunst bedeutet, wenn niemand mehr da ist, vor den man sie stellen darf. Und auch ich liege im Bett, erschlagen von der Frage, inwiefern man Künstlerin bleibt, wenn die Kunst keiner sieht, ich google Unijobs, wäge Alternativen ab und stelle ernüchtert fest, dass man heutzutage sogar fürs Flyerverteilen Qualifikationen braucht, die ich nicht habe.
Dann beschließe ich, mich hinzulegen, Nachos zu essen und darauf zu warten, bis das alles vorbei ist, was kosmisch gesehen, und man sieht immer alles kosmisch, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat, ja praktisch jeden Moment passieren könnte. Aber meistens kommt das Ende der Sinnkrise dann doch vor dem Ende der Pandemie. Oder gar: der Welt.
Moment! Das wollte ich gar nicht sagen, ich wollte ja eben nicht von Sinnkrisen und kosmischen Zusammenhängen sprechen. Ich wollte sagen, dass mein Optimismus nicht gestorben ist! Ich wollte sagen, dass alles nicht so schlimm ist und ich mich wirklich, wie alle, deren Jammern gehört wird, in einer scheiß privilegierten Situation befinde. Ich wollte sagen, dass ich eh Lieder schreibe, und die Lieder gehen dann zum Beispiel so: "Ich hab in letzter Zeit / So viel Zeit zum Lesen / Es entspricht überhaupt nicht meinem Wesen." Oder so: "Der Tanz um die Resonanz /Wird nie so ganz / Poesie auf Distanz."
Und so weiter, das wollte ich sagen. Das wollte ich eigentlich sagen, forza puoi fare di meglio wollte ich sagen, euch allen da draußen, und continua cosi wollte ich sagen, aber dann bin ich abgeschweift. Ich wollte euer Luigi sein und euch allen mit tonlos optimistischer Stimme in perfektem Italienisch Mut machen und la vita é bella zurufen, ci vediamo dopo!
Ich wollte euch eine Italo-Hits-Playlist empfehlen und ein Gnocchirezept und das beste Mischverhältnis für Campari Soda, und nichts davon ist sich ausgegangen, weil mein Selbstmitleid dann doch zu viel Raum eingenommen hat. Ich wollte auch politisch werden und etwas Wütendes über den Shorty und seinen ideologiebefreiten Populismus schreiben; über diese skurrile türkise Playback-Boyband an der Regierungsspitze; darüber, wie absurd es ist, dass die neuen ÖFB-Trikots wie ÖVP-Trikots ausschauen und dass meine zwölfjährigen Cousinen weniger Emojis verwenden als Thomas Schmid, der übrigens für unijobs.at sicher nicht ausreichend qualifiziert wäre.
Ja, das wollte ich machen, und dann ging es wieder nur um mich in meiner kleinen Festung, nichts Mutmachendes, nichts gesellschaftlich Relevantes, nur sudern, einfach weil ich nach einem Jahr Pandemie gewohnt bin, dass ich das Zentrum meiner Welt bin, zum Kotzen. Da darf man sich äußern im Falter und sagt nur Mimimimimi.
Aber wenn ich etwas gelernt habe in diesem Jahr, dann ist es genau das: Es kommt immer alles ganz anders als man Erdäpfelsalat. Und das muss man dann einfach auch akzeptieren können. Ciao ragazzi. Ci vediamo dopo! La vita é bella.
Anna Marboe,
1996 in Wien geboren, studierte am Max Reinhardt Seminar Regie und ist neben ihrer Arbeit am Theater auch musikalisch tätig. Als Songwriterin nennt sie sich Anna Mabo; dem Debüt "Die Oma hat die Susi so geliebt"(2019) folgte soeben "Notre Dame". Am 26. Mai stellt die Musikerin ihr zweites Album im Radiokulturhaus vor
In der Reihe "Aus meiner Festung" erzählen lokale Kulturschaffende in der Falter:Woche von ihrem Alltag unter Pandemiebedingungen