Lianen aus Latex, Lust auf Leder
Aus Latexmilch gießt die Künstlerin Liesl Raff vielfarbige Skulpturen und auch ganze Bühnenbilder

Foto: Katharina Gossow
An der Tür zur Werkstatt steht ein Kanister mit einer weißen Flüssigkeit. Es ist der Stoff, aus dem Liesl Raffs künstlerische Träume sind: "Ich habe mich irgendwie in Latex verliebt", bekennt die Bildhauerin, so als würde sie dieses Faible selbst verwundern.
Bei Latexliebe könnte man an glänzende Fetischkleidung denken. Mit dem Wet-Look von SM hat Raff aber nichts am Hut. Lieber reibt sie ihre Skulpturen mit Talkum, einem Puder, ein. An dem Kautschukmaterial reize sie, dass es so "menschlich" sei. "Es hat eine Art Gedächtnis, weil es beim Trocknen Formen bewahrt. Außerdem altert Latex, es darf dann stinken, schiach und braun werden und irgendwann zerfallen."
In Raffs Studio liegen etliche lange Metallformen, in denen gerade gefärbte Latexschnüre trocknen. An ihren Enden sind Seilschlaufen eingelassen, wie bei Sprungschnüren. Büschelweise hängen fertige Plastiken an diesen Griffen von Haken. Ihre Oberflächen sind nicht glatt, sondern tragen Herstellungsspuren. Diese "Verletzungen" kämen daher, erklärt die Künstlerin, dass sie die Schnüre vor der Durchhärtung aus der Form ziehe.
Vor einem Fenster steht ein Stahlrohrgestell, das mit roter Folie bespannt ist. Es ist eine Schutzwand, die vor den Funken beim Schweißen schützt. "Das habe ich schon als Kind von meinem Großvater gelernt. Er hatte eine Schlosserei, in der ich quasi aufgewachsen bin", erzählt die geborene Stuttgarterin, die auch Stahlskulpturen selbst produziert.
Als Teenager wurde Raff zum Punk und engagierte sich in der Antifa. Dennoch blieb sie Opas Werkstatt, in der reich verzierte Gitter für Kirchen hergestellt wurden, treu. Im Herbst 2003 kam die deutsche Abiturientin nach Graz, um Bühnenbild zu studieren. Warum ausgerechnet Graz? "Dort war der letzte Termin für eine Mappenabgabe im deutschsprachigen Raum", erklärt sie lachend.
Obwohl sie schon als Studentin viel an Theatern mitwirkte, wurde Raff bald klar, dass sie zur Bildhauerei wollte. Bei ihrem Zweitstudium an der Akademie der bildenden Künste in Wien spielten Gruppenprojekte eine besondere Rolle. Gemeinsam mit Eva Seiler baute Raff einen Kiosk für den Garten der Bildhauerateliers.
"Mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Bier und Schinken-Käse-Toast haben wir künstlerische Projekte anderer finanziert." Kollegen und Kolleginnen konnten die Wände des Kiosks als Ausstellungsfläche benutzen. So gewann der Studi-Treffpunkt im Freien künstlerischen Mehrwert.
Heute ist Raff froh, solo zu arbeiten. Obwohl sie dem Theater schon lange den Rücken gekehrt hat, gestaltet sie dieser Tage doch wieder ein Bühnenbild. Der Tänzer und Choreograf Philipp Gehmacher hat die Künstlerin eingeladen, bei seiner diesjährigen Festwochen-Produktion mitzuwirken.
Das Stück "The Slowest Urgency" wird im Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe aufgeführt. "Ich kann in einem der leerstehenden Pavillons meine Sachen gießen", erzählt Raff über ihre Arbeit auf dem ehemaligen Psychiatriegelände. Gerade stellt sie dort einen zehn Meter langen Bühnenprospekt her. Ob die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Objekten auch auf Tuchfühlung gehen werden, weiß die Künstlerin noch gar nicht.
Das Augenmerk auf Dimensionen wie Verletzlichkeit, Empathie, Anziehung und Abstoßung verbinde sie mit Gehmacher, schildert Raff. Ihre Objekte hätten "agency", also Handlungsmacht, wurde schon über die Kunst der Angewandte-Lektorin geschrieben. Wiewohl ihre Plastiken nicht zum Angreifen und Hantieren gedacht sind, legen doch etliche Aktion und Dynamik nahe.
Eine Residency in Mexiko 2018 habe sie diesbezüglich sehr geprägt, erzählt Raff. "Mich haben dort die alltäglich-praktischen Lösungen fasziniert." Etwa dass Frauen ihre Taschen auf Bäume hängen, damit sie nicht so leicht gestohlen werden. Auch die starken Farben und die tropische Vegetation haben Spuren hinterlassen.
Bei ihrer vorjährigen Einzelschau "About Snakes, Palms and Tongues" in der Galerie Sophie Tappeiner montierte Raff über den Schaufenstern ein Vordach, für das sie Palmenblätter in Latex eingegossen hatte. Ihre Skulptur "Cascade" mit zungenförmigen Blattelementen wird in der kommenden Sammlungsschau des Mumok hängen.
Mittlerweile hat die Latexspezialistin aber Lust auf einen Seitensprung. In ihrem Hinterzimmer lagert eine Rolle von hellbraunem Leder. "Ich hätte gerne ein Praktikum bei einem Sattler gemacht, aber das ging wegen Corona nicht", bedauert die passionierte Handwerkerin.
Es ist Zeit für eine neue "Liaison", wie Liesl Raff ihre originellen Materialpaarungen nennt. Auf das Anbandeln mit Leder freut sie sich schon.