LEXIKON
KINDESMISSBRAUCHSBILDER
Illustration: PM Hoffmann
Eine Milliarde Euro. Die Summe war so hoch, dass es Mihkel Kärmas schwerfiel, sie ernst zu nehmen. Kritik an seinen Berichten gehören für den estnischen Investigativjournalisten „zum Job dazu“. Doch das Mail, das vor knapp drei Jahren, am Freitag vor Weihnachten, in seiner Mailbox landete, war anders als die Leserbriefe, Beschwerden und Klagen zuvor. Kärmas klickte sich durch die Dokumente: 18 Anklagepunkte. Neu war, dass sich die Vorwürfe nicht gegen seinen Arbeitgeber, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sondern gegen ihn persönlich richteten. Wie auch die Höhe des Schadens, die dem Kläger dadurch entstanden sein soll: eine Milliarde Euro.
Kärmas, Hornbrille und Glatze, mehrfach preisgekrönt, wirkt nicht wie jemand, der schnell aus der Ruhe zu bringen ist. Der 47-Jährige arbeitet für das estnische Enthüllungsprogramm Pealtnägija (deutsch: Augenzeuge). Einige Wochen zuvor hatte er mit einer Kollegin einen Beitrag über Immobiliendeals einer finnischen Wohltätigkeitsorganisation in Estland recherchiert. Die finnische Organisation warf ihm und einer Kollegin nun „schädigende Handlungen“ und „Falschinformationen“ vor, obwohl die Berichte zur Causa schon zuvor auf anderen Portalen und Medien publik geworden waren und gegen die Verantwortlichen in Finnland längst ein Strafverfahren läuft. Heute, fast drei Jahre später, ist Kärmas’ Fall vor Gericht gerade erst angelaufen. Im besten Fall gibt es bald ein Urteil. Im schlimmsten Fall verfolgt ihn die Causa noch viele Jahre.
Ein Gespenst geht um in Europas Medienbranche: sogenannte Einschüchterungsklagen gegen Journalisten und Aktivisten, Strategic Lawsuits Against Public Participation, kurz SLAPP. Kärmas’ Fall ist ein Musterbeispiel dafür, sagt die Londoner NGO für Pressefreiheit, Index on Censorship. Klagen, die nicht darauf abzielen, Falschmeldungen zu korrigieren, den Ruf eines Unternehmers vor Gericht wiederherzustellen oder einen Politiker wieder ins rechte Licht zu rücken, sondern Journalisten alleine durch das Verfahren und die Bürokratie zu zermürben, mit horrenden Forderungen einzuschüchtern und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Und mit ihr vielleicht auch gleich die ganze Branche.