Kampf um die Stadtstraße

Wie ist das eigentlich mit Wiens umstrittenstem Verkehrsprojekt, für das gerade im 22. Bezirk die Bauarbeiten beginnen? Ziemlich kompliziert! Wir beantworten fünf zentrale Fragen dazu.

Emil Biller
FALTER.MORGEN, 17.08.2021

Der geplante Verlauf der Stadtstraße Grafik: MA 28

Kaum ein Straßenprojekt emotionalisiert so sehr wie der geplante Lückenschluss der Wiener Außenring-Schnellstraße S1 samt Lobautunnel und Stadtstraße. Die Bauarbeiten für letztere beginnen gerade. Und es regt sich erbitterter Widerstand dagegen (unter anderem mit dem Argument, dass die Stadt Wien damit ihre eigenen Klimaziele konterkariert). Wir haben im FALTER.morgen zusammengefasst, worum es bei der Stadtstraße Aspern eigentlich geht und wer welche Argumente hat.

1. Was ist die Stadtstraße Aspern?

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Bereits seit fast 30 Jahren gibt es Pläne für das Straßenprojekt mitten durch die Donaustadt, das jetzt realisiert werden könnte: 3,2 Kilometer lang, größtenteils vierspurig, aber mit einer durchgängigen Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h soll es die Südosttangente (A23) mit den Ausläufern des Stadtentwicklungsgebiets Seestadt Aspern verbinden – teilweise in Form eines Tunnels unter Wohngebieten und der U-Bahn-Trasse. Nahe der Seestadt würde die Stadtstraße direkt in die S1-Spange übergehen (siehe Karte). Aktueller Kostenpunkt: 460 Millionen Euro, wovon die Hälfte der Bund übernimmt. Ursprünglich war weit weniger Budget veranschlagt, durch hohe Umweltauflagen, Planänderungen und Verzögerungen sind die Kosten aber stark angestiegen.

2. Wie hängt die Stadtstraße mit der S1-Verlängerung und dem Lobautunnel zusammen?

Die Stadtstraße ist eigentlich Teil des größeren Straßenbauprojektes S1-Nordostumfahrung und macht ohne dessen Umsetzung nicht viel Sinn. Die Verlängerung der S1 würde die Lücke im hochrangigen Schnellstraßen- und Autobahnnetz im Wiener Umland schließen. Dadurch soll die A23 entlastet und der Schwerverkehr an Wien vorbeigeführt werden. Großen Widerstand dagegen gibt es auch, weil ein acht Kilometer langer Tunnel unter dem Naturschutzgebiet Lobau geplant ist.

Zurück zur Stadtstraße: gemeinsam mit der S1-Spange würde sie eine Verbindung zwischen der neuen S1 und der A23 bilden. Trotzdem wurde sie 2011 aus dem Großprojekt herausgelöst und liegt seitdem im Zuständigkeitsbereich der Stadt Wien. S1 und S1-Spange werden allerdings vom Bund und der ASFINAG geplant und liegen aufgrund der aktuellen Evaluierung durch das Klimaschutzministeriums hinsichtlich der Klimaziele auf Eis. Die Stadt Wien beginnt jetzt trotzdem, die Stadtstraße zu bauen.

3. Warum macht sie das?

Die Stadtstraße ist gemeinsam mit der S1-Spange Voraussetzung für den weiteren Ausbau der Seestadt Nord und soll der Entlastung der Durchzugsstraßen und Ortskerne im 22. Bezirk dienen.

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Die Errichtung der Seestadt dient als Argument für die Stadtstraße und die S1-Spange. Damit die Seestadt Nord weitergebaut werden kann, müssen zuerst Stadtstraße und S1-Spange für den Verkehr freigegeben werden. Das schreibt die Umweltbehörde in der Umweltverträglichkeitsprüfung vor – und das wurde auch von der Stadt Wien so eingereicht ohne Alternativen zu prüfen. Außerdem sollen der öffentliche Verkehr in der Donaustadt stark ausgebaut und zusätzliche Rad- und Fußwege errichtet werden.

Der Verkehr, der aktuell auf vielen kleinen Straßen durch Wohngebiete fließt, soll auf der Stadtstraße gebündelt werden. 17.000 Menschen pendeln jeden Tag in die Donaustadt, die starke Zersiedelung macht für viele ein Auto notwendig. Die Stadtstraße soll dieses Verkehrsproblem lösen, allerdings dürfte es nur in Kombination mit S1 und S1-Spange zu einer Entlastung der Ortskerne kommen. Und auch da ist sogenannter induzierter Verkehr, also zusätzlicher Verkehr aufgrund der Attraktivierung des Angebots zu erwarten.

4. Was sagt die Gegenseite?

Kritiker und Aktivistinnen befürchten durch den Bau der Stadtstraße eine Zunahme des Verkehrs, weitflächige Versiegelung der letzten Grünflächen in der Donaustadt und die Zerstörung der Umwelt. Auch viele Wissenschaftler wehren sich gegen das Projekt: Die Planung sei nicht mehr zeitgemäß, man müsse angesichts der Klimakrise von einem anderen Mobilitätsverhalten ausgehen. Inzwischen sei vielfach belegt, dass der Neubau von Straßen zu mehr Autoverkehr führe, aber nur selten zu weniger Stau, schreiben die Scientists for Future in einer Stellungnahme zum Lobauprojekt. Für die Aktivisten ist klar: „Wird gebaut, wird besetzt!”

Dass die Gegner das ernst meinen, hat sich bereits bei einigen Baustellenblockaden gezeigt, die von der Umweltbewegung Extinction Rebellion in den vergangenen Tagen und Wochen durchgeführt wurden. Mit weiteren Aktionen ist zu rechnen.

5. Wie stehen die Parteien dazu? 

Für die SPÖ Wien ist dieses Projekt wohl eines der bedeutendsten für die zukünftige Stadtentwicklung. Verkehrssprecher Erich Valentin sagt dazu: „Ohne Stadtstraße und Lobautunnel wird Wohnen in Wien zwangsläufig teurer.” Der Wiener Landtag hat im April mit den Stimmen aller Parteien bis auf die Grünen das Budget für die Stadtstraße freigegeben, obwohl deren Verkehrsstadträtinnen Maria Vassilakou (bis 2019) und Birgit Hebein (2019 bis 2020) in der rot-grünen Koalition das Projekt maßgeblich mitgeplant haben. Bei den NEOS ist es genau umgekehrt. Die Pinken waren vorher gegen das Projekt, mussten jetzt aber bei der Finanzierung der Stadtstraße mitstimmen. ÖVP und FPÖ sind hingegen eindeutige Befürworter.

Auch auf Bezirksebene schlägt die Stadtstraße Wellen. Im Juni verhinderten die Donaustädter SPÖ, ÖVP, FPÖ und Team HC eine Bürgerversammlung. Jetzt wollen die Bezirksräte der Grünen gemeinsam mit den NEOS, der Bierpartei und einer unabhängigen ehemals ÖVP-Bezirksrätin von ihrem Minderheitenrecht Gebrauch machen und eine Versammlung erzwingen. Am vergangenen Montag (16. August) haben sie in einer gemeinsamen Aktion die Unterschriften dafür übergeben.

Noch mehr Informationen zum Thema Stadtstraße gibt es im FALTER 33/21, der ab 17. August um 17 Uhr per E-Paper abrufbar und ab 18. August am Kiosk erhältlich ist.

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