Erscheinung
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Die große Baustelle auf der Mariahilfer Straße in Wien: Auf den Ruinen des historischen Leiner-Gebäudes soll ein Nobelkaufhaus entstehen (Foto: Christopher Mavrič)
Knirsch, krach, Staubwolke. Stück für Stück frisst sich der Bohrer in das, was bis vor kurzem das Möbelhaus Leiner an der Mariahilfer Straße war. Beton und Mauerwerk werden zu Bröseln, Architektur verwandelt sich in Schutt. Passanten bleiben stehen und bestaunen das Spektakel, doch im Grunde ist ein Abbruch wie dieser ganz alltäglich. Die Bauindustrie ist für 40 Prozent der Abfallproduktion weltweit verantwortlich, allein Zement ist für rund acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich. In Österreich hat das Bauen mit Abstand den größten Anteil am Ressourcenverbrauch, rund ein Fünftel aller Abfälle kommt vom Bau.
Doch diese Alltäglichkeit der Zerstörung wird in Zeiten der Klimakatastrophe zunehmend hinterfragt. Während das Möbelhaus Leiner noch entkernt wurde, zeigte die Ausstellung „Material Loops“ im Haus der Architektur in Graz auf, wie sich das Bauen in die Kreislaufwirtschaft einklinken kann. Da war eine Villa in den Niederlanden zu sehen, für deren Fassade Holz aus alten Kabeltrommeln verwendet wurde. Ein Bürobau im schweizerischen Winterthur, in den Stiegenhäuser und Fliesen aus Abbruchbauten integriert wurden. Oder das experimentelle Wohnhaus „Cityförster“ in Hannover, das Bauprodukte mit wiederverwerteten Materialien wie Recyclingbeton oder einer Fassadendämmung aus Jutesäcken kombiniert. Gebaute Beispiele, die zeigen, dass Recycling-Architektur ganz entgegen dem Klischee nicht freudlos und spröde aussehen muss. Die Ausstellung war kein Einzelfall. Denn die Architektur ist, nach Jahrzehnten digitaler Träumereien, wieder auf dem Boden angekommen und besinnt sich auf das, was sie ist: ein temporärer Zustand von Materialien.
Mitte August. Während das Möbelhaus Leiner schon zur Hälfte in Schuttmulden gewandert ist, melden sich 700 Kilometer nördlich bei der Konferenz „Berlin Questions“ unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) einige Forscher zu Wort, die einen radikalen Kurswechsel fordern. Eine davon ist Charlotte Malterre-Barthes, Professorin an der Harvard Graduate School of Design, die für ein komplettes Neubau-Moratorium plädiert. „Es sind die Mechanismen des Finanzmarktes und das Dogma des Wachstums, die ständig Abriss und Neubau fordern“, sagte Malterre-Barthes und stellt damit grundsätzlich das auf Rendite fixierte Wirtschaftsmodell infrage. „Selbst wenn wir das nur für eine kurze Zeit stoppen, werden wir nicht nur den Wert bestehender Gebäude erkennen, sondern auch den Wert der Arbeit der Menschen darin, vor allem der Care-Arbeit.“