„Früher wurde mehr gesoffen und weniger gestolpert“

Alternativbeisl und Avantgardeclub zugleich, war das Blue Tomato eine Institution. Nun muss eine der lässigsten Hütten der Stadt endgültig schließen

Klaus Nüchtern
FALTER:WOCHE, FALTER 46/21 vom 16.11.2021

Als stets freundliche und respektvolle Herbergsgeber haben Gerti Man und Günter Werner über Jahrzehnte für den richtigen Mix in der Blauen Tomate gesorgt (Foto: Heribert Corn)

Die Temperaturen sinken. Die Infektionszahlen steigen. Die Tage werden kürzer. Der Hochnebel über der Stadt zieht sein gefürchtetes Catenaccio auf. Grau schlägt Blau. Wer jetzt kein Haus hat, wird weiter Miete zahlen. Und nicht nur das Wetter verursacht Qualen.

Auch abseits der Meteorologie haben Gerti Man und Günter Werner solide Gründe für Schwermut. Ende 2021 wird das Blue Tomato in der Wurmsergasse im 15. Bezirk endgültig Geschichte sein. 1982 hat „die Tomate“, wie sie im Kreis der dort mehr oder weniger beheimateten Freunde des Jazz und der improvisierten Musik genannt wird, eröffnet – also ziemlich genau zu jener Zeit, als der Beislboom die innerhalb des Gürtels gelegenen Bezirke erfasste.


Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Ausnahmsweise lesen Sie diesen Artikel kostenlos. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement oder testen Sie uns vier Wochen lang kostenfrei.

Zwei befreundete Ehepaare – Günter Werner war damals noch nicht dabei – hatten sich entschlossen, ein Lokal aufzusperren, das sie selber gerne besuchen würden; und sie hatten bereits hinreichend viele Cocktails verräumt, um sich bei der Namenswahl von George & Ira Gerswhin, beziehungsweise deren berühmtem Song „Let’s Call the Whole Thing Off“ inspirieren zu lassen, der transatlantische Aussprachedifferenzen thematisiert: „You like potato and I like potahto / You like tomato and I like tomahto.“ Eine Blödelei, eine bsoffene Gschicht, aber Gerti Man ist heute noch froh darüber, dass der Vorschlag „Hot Potato“ keine Mehrheit fand.

Ganz glücklich war die finale Wahl aber insofern nicht, als sechs Jahre später ein Unternehmen gleichen Namens gegründet werden sollte, das businesstechnisch freilich ganz anders aufgestellt ist: Blue Tomato vertreibt laut Onlineauftritt „alles, was mit Snowboard, Freeski, Surf, Skateboard und Streetstyle zu tun hat“. Allein in Österreich unterhält die Kette über ein Dutzend Shops zwischen Bludenz und Wien, Linz und Lienz, Villach und Vöcklabruck.

„39 Jahre am Platz und kein einziges Snowboard verkauft“, lautet der laufend nachdatierte Claim des Musiklokals. Was nicht heißt, dass sich nicht immer wieder schneespaßaffine Kunden in die Wurmsergassse verirren. Günter Werner erinnert sich an einen Mann, der ganze zwei Stunden an der Bar getrunken und sich erst dann erkundigt hatte, wo er sich eigentlich die Snowboards ansehen könne. Auch Skibindungen oder ganze Paletten mit Werbeprospekten wurden angeliefert.

Der 40. Geburtstag wird sich definitiv nicht mehr ausgehen, und die Lust zum Feiern hält sich nachvollziehbarerweise in Grenzen. Ein im Lokal aufliegender Flyer wartet mit einer „Kurzversion“ der Ereignisse auf, die den Gästen die traurige Sachlage erklärt: „Eigentumsverhältnisse an der Liegenschaft haben sich geändert, wir sind betroffen und werden unsere Tätigkeit bis Jahresende einstellen. Grund zum Feiern sehen wir darin wenig, und die Vorstellung, weinenden Auges eine rauschende Schlussparty zu veranstalten, mag sich nicht so recht einstellen. Also werden wir den Abschied eher zizerlweise angehen. Ob das mental verträglicher ist, werden wir sehen.“

Gerti und Günter, deren Nachnamen viele der Stammgäste und -musiker gar nicht kennen, sind sichtlich um ihren je individuellen Modus des Melancholiemanagements bemüht. Während Gerti den Gefühlen freien Lauf und sich bereitwillig Anekdoten und Erinnerungen entlocken lässt, gibt sich Günter gelassen und etwas wortkarger. „Für die Gerti ist das ihr Lebenswerk, ich tu mir da ein bisschen leichter“, erklärt er und deutet vorsichtig an, dass ihm das ohnedies schon alles zu viel geworden sei. So ganz mag man ihm das freilich nicht abnehmen. Und wer weiß, ob er es sich selber glaubt.

ANZEIGE

„Unsere Gäste rean“, verrät Gerti. Als der US-amerikanische Saxofonist Dave Rempis – musikalischer Stammgast in der Tomate, wo er sehr gerne noch einmal aufgetreten wäre – seinen jüngsten Wien-Auftritt andernorts absolvieren musste und dort dem Blue Tomato und seinen Betreibern ein Solo widmete, schossen wiederum Gerti die Tränen in die Augen, und auch Günter konnte sich ihrer nicht ganz erwehren.

An Interesse, das Lokal doch zu erhalten, mangelte es durchaus nicht. Wäre es nach ihren Wünschen gegangen, hätten Gerti und Günter dieses gerne jemandem übergeben, der es in ihrem – und im Sinne der Szene – weiterbetreibt. Es ist bloß so, dass das Lokal stets nur angemietet worden war und von der Eigentümerin nun verkauft wurde, ehe man ihr ein Angebot hätte machen können. Aber selbst wenn sich Stammkunden gefunden hätten, die bereit gewesen wären, zu investieren, hält Gerti diese Option für unrealistisch. Die Sanierungs- und Instandhaltungskosten wären einfach zu hoch.

Was genau der neue Eigentümer mit den Räumlichkeiten vorhat, ist nicht bekannt. Das Lokal befindet sich im Souterrain einer ehemaligen Maschinenfabrik, hat allerdings über den Innenhof, der das Adjektiv „lauschig“ wirklich verdient und in der warmen Jahreszeit entscheidend zum Reiz der Tomate beiträgt, Tageslicht. Soll heißen: Es hat, sobald man die Fenster, die derzeit auf der Innenseite noch durch Bilder verdeckt sind, wieder freiräumt. Das 180 Quadratmeter große Alternativbeisl ließe sich mit entsprechendem Aufwand in schicke, loftartige Büro- oder Geschäftsräume transformieren – für den Bauträger gewiss eine reizvolle und lukrative Option, für die Stammkundschaft und die Musiker ein herber Verlust.

„Es wird ein Riesenloch in die Szene reißen“, prognostiziert Vincenz Wizlsperger, Bassist, Helikonspieler, Kammbläser sowie Sänger und Conferencier des Wienerlied-Trios Kollegium Kalksburg. Für die improvisierte Musik gebe es dann eigentlich nur noch das Celeste in der Hamburger Straße im fünften Bezirk. Der Saxofonist und Klarinettist Martin Zrost, der Wizelsperger in diversen Formationen zur Seite steht, findet unabhängig von diesem exakt die gleichen Worte.

Sicher über 50 Mal sei er im Blue Tomato aufgetreten, und selbstverständlich ist Zrost gleich mehrfach an dem klingenden Abschiedsreigen beteiligt, mit dem sich Dutzende von Musikern und Musikerinnen in den verbleibenden Wochen von ihrem home turf verabschieden (siehe Seite 6) – darunter auch solche aus Übersee. „Es ist ja kein Zufall“, so Zrost, „dass Leute wie Ken Vandermark im Blue Tomato auftreten, wenn sie nach Wien kommen.“ Der in Chicago lebende Saxofonist, Komponist und Bandleader, bedacht mit dem gerne als „Genius Award“ apostrophierten und in der Höhe von 625.000 Dollar ausgeschütteten MacArthur-Fellowship-Stipendium, ist einer der umtriebigsten Kreativkräfte der zeitgenössischen Jazzavantgarde. In seinem Statement für den Falter hält er fest, dass die Lebenszeit vergleichbar bedeutsamer Clubs für improvisierte Musik üblicherweise nur einige Jahre betrage. Dass es im Blue Tomato über Jahrzehnte allwöchentliche Konzerte gegeben habe, sei „ein unermessliches Geschenk für die kreative Entwicklung dieser Musik“ gewesen, „nichts weniger als ein Wunder“.

Diese Konzerte – der Raum bietet rund 70 Personen Platz – sind aber nicht bloß Gigs, sondern Grundlage für nachhaltige Begegnungen über Ländergrenzen und Generationen hinweg. Seit Jahren arbeitet Vandermark mit dem Wiener Elektroniker Christof Kurzmann zusammen, und Martin Zrost erinnert sich daran, wie ihn Anfang der 1990er eines seiner größten Idole, der Schweizer Saxofonist Werner Lüdi, nach einer Begegnung in der Tomate kurzerhand eingeladen habe, bei einem Konzert im Free-Improv-Mekka Nickelsdorf in dessen legendärer Free-Jazz-Combo Blauer Hirsch einzusteigen: „Als Jungspund hab ich mich zuerst angeschissen, war dann vollkommen elektrisiert und bin nach dem Gig zwei Wochen lang einen halben Meter über dem Boden geschwebt.“

Einige Jahre danach – die Zeitzeugenberichte weisen eine gewisse Tendenz auf, sich im Nebel der Geschichte zu verlieren – sprang Zrost in der Tomate für Lüdi ein, nachdem es den ziemlich trinkfesten und noch trinkfreudigeren Saxofon-Berserker beim Versuch, seine Jacke aufzuhängen, von der Bühne geprackt hatte. „Er ist umgefallen wie ein Brett. Jeder andere wäre tot gewesen. Er aber ist ins Hotel gefahren und hat sich ein bisschen hingelegt.“

In Hinblick auf seine brandstifterischen Aktiväten ist Zrost zwar geständig. Er kann sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, wann genau und mit welcher Formation er zugange war, als es ihm mithilfe der Applikation von pyrotechnischer Kleintechnologie gelungen war, die Jalousie, die den Backstagebereich von der Bühne trennt, in Brand zu stecken. Was die Nachgeborenen heute zu sehen bekommen, ist, wie Günter mit einem gewissen Nachdruck festhält, „nicht die Originaljalousie!“.

Die Blue-Tomato-Bühnenjalousie zählt zu jenen Einrichtungsdetails, die auf den ersten (und auch den zweiten) Blick unspektakulär sind, aber die Atmosphäre des Ambientes bestimmen und letztendlich den Genius Loci eines Lokals ausmachen, das sich um Hipsterzertifizierung noch nie geschert hat. So wie die gusseiserne Wendeltreppe hinter der Bar, die schon für machen Spekulation gesorgt hat, tatsächlich aber direkt in die Wohnung von Gerti und Günter führt, der Konvexspiegel über der Bank oder das Eck.

Das Eck belegt einerseits, dass auch die Innenarchitektur des Blue Tomato nach den Kriterien der freien Improvisation ersonnen worden sein muss, und beweist andererseits zugleich, dass etwas, das fehlt, noch immer sehr präsent sein kann. Denn mittlerweile ist das Eck weg – jene tief in den Raum ragende Spitze des rot gefliesten Sockels (auf dem die Bank steht, über der der Spiegel hängt).

Aufgabe des Ecks war es, die Gäste dazu zu nötigen, in die Gerade zwischen A (Tisch, Bar, Bühne) nach B (Klo) eine tobleronesegmentförmige Umgehungsbewegung einzubauen – was nach fünf Bieren und drei Schnäpsen schon eine gewisse Herausforderung darstellen kann. Die Unfallstatistiken hat die kleine Korrektur – statt eines Dreiecks ragt nunmehr ein Trapez nicht mehr ganz so weit in den Raum – allerdings nicht wesentlich verbessert; denn, wie Gerti weiß: „Früher wurde mehr gesoffen und weniger gestolpert.“ Alkohol ist eine Substanz, die sich strategisch zu Distanzminimierungszwecken einsetzen lässt. Er bringt uns einander näher. Unter Umständen. Tatsächlich haben die von Gerti im stationären Schankbereich versorgten Stammgäste und das vom auch im Außendienst (Flughafenabholung et al.) tätigen Günter mit Konzerten geköderte Musikpublikum nicht zueinander gefunden. Stattdessen standen sie insofern miteinander in Konkurrenz, als Gerti immer wieder damit gehadert hat, wenn ein publikumsträchtiges Festl nicht stattfinden konnte, weil am selben Tag ein schlecht besuchtes Konzert angesetzt war.

Als zur Jahrtausendwende ein mit unüblich hohem technischen Aufwand verbundener Auftritt der Band Das Böse Ding anstand, blieben die Tische vor der Bühne leer. Worauf sich die Musiker des deutschen Prog-Jazz-Quartetts ihre Instrumente schnappten, vom hinteren, als Musikclub genutzten Teil in den für tatsächlich anwesende Gäste verbliebenen Bereich vorwagte, um dort in eigener Sache die Trommel zu rühren: „Wir sind Das Böse Ding und spielen heute für euch. Kommt doch zu unserem Konzert.“

Die Angesprochenen waren peinlich berührt. Und blieben sitzen. Und so ist es, wie auch Günter eingestehen muss, im Wesentlichen bis heute geblieben: „Die Stammgäste haben mit der Musik nichts am Hut.“ Hätte er statt auf sein musikalisches Herz auf Gertis unternehmerischen Instinkt gehört, hätte er seine Ambitionen auf diesem Gebiet wohl bald wieder eingestellt.

„Er macht das aus echter Liebhaberei“, zollt Vincenz Wizlsperger dem selbstlosen Teilzeit-Clubbetreiber Respekt. „Normalerweise spielt man um die Einnahmen im Verhältnis 70 zu 30 oder 60 zu 40. In der Tomate hingegen legt der Veranstalter noch etwas drauf!“ Bei den Gartenkonzerten, die Winzelsperger mit Thomas Berghammer und Martin Zrost, auch bekannt als Albtrieb Trio, absolvierte, ließ man anschließend einfach den Hut herumgehen: „Als dann ein paar Hunderter drin lagen, war klar, dass die nicht vom Publikum gekommen sind.“

Im Falle von Kollegium Kalksburg schwingt sich das Blue Tomato gar zu einer besonderen Catering-Offensive auf und stellt den Herrn einen Kühlschrank auf die Bühne. „Das ist eine nette Geste“, findet Wizelsperger. „Aber auch furchtbar. Der Günter tut da immer auch einen Schnaps rein. Und man fühlt sich ja verpflichtet. Der Kühlschrank hat uns schon oft das Gnack gebrochen.“F

Fanden Sie diesen Artikel interessant? Dann abonnieren Sie jetzt und bleiben Sie mit unserem Newsletter immer informiert.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden Sie in unserem Archiv.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!