Historisch: Von der kaiserlichen Impfpflicht zur Impffreiheit der Nazis

MATTHIAS DUSINI
Politik, FALTER 03/22 vom 19.01.2022

Aus der Geschichte lassen sich kaum Argumente für eine Impfpflicht ableiten. Sie scheint psychologisch und auch organisatorisch das falsche Rezept zu sein. Der deutsche Historiker Malte Thießen, der die Geschichte des Impfens vom Kaiserreich bis zu den Kampagnen in der DDR und der BRD aufarbeitete, konstatierte bereits Anfang 2020: "Eine verpflichtende Corona-Impfung halte ich für wenig sinnvoll."

In den 1960er-Jahren, als die Impfung gegen Pocken im Kindesalter vorgeschrieben war, hatten die Behörden weniger mit dezidierten Impfgegnern zu tun als mit der Impfmüdigkeit. Im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung half dagegen nicht Zwang, sondern Aufklärung. Merkblätter, Broschüren und Filme zielten auf individuelle Ängste und elterliche Fürsorge und stellten die Schutzimpfung als einfache Lösung in Aussicht. "Man kann leicht nach der Impfpflicht rufen", sagt Thießen, "aber man muss sie auch umsetzen können."

Bereits im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, wo noch mit harter Hand gepikst wurde, biss die Obrigkeit auf Granit. Listen mit den zu Impfenden waren rasch erstellt, aber was sollte man tun, wenn die Leute einfach nicht kamen? Die Beamten klagten über den riesigen Aufwand von Nachladungen. Die Drohung von Geldstrafen oder Gefängnis verstärkten die Ablehnung. Den eingeschworenen Impfgegnern kam das Einschreiten der Polizei gerade recht. Sie riefen Journalisten herbei und inszenierten sich öffentlichkeitswirksam als Opfer staatlicher Willkür.

Paradoxerweise war es gerade die Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus, die auf das Prinzip Freiwilligkeit umsattelte. In einem System totalen Zwangs machten die Behörden statt polizeilichen psychologischen Druck. Es hieß, wer sich nicht impfen lasse, schade der Volksgemeinschaft. Diese Strategie war erfolgreich. 90 Prozent nahmen etwa an der damals neuen Diphtherieschutzimpfung teil. Nach 1945 blieb der Appell an das Gewissen bestehen: Aus der "Volksgemeinschaft" wurde die "Volksgesundheit".

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