DIE GENIALE WIENERIN
Als Künstlerin und Schriftstellerin gehörte Rosa Rosà (1884-1978) zur italienischen Avantgarde. In ihrer österreichischen Heimat ist sie unbekannt. Das kann sich ändern
Romeo Castellucci ist Stammgast der Wiener Festwochen (Foto: Peggy Jarrell Kaplan)
Romeo Castellucci hat schon vieles auf die Bühne gebracht: Rettungskräfte, Stiere, Fäkalien. In „Orfeo ed Euridice“ war eine Wachkomapatientin Akteurin, und in „Sacre du printemps“ regnete es Staub aus gemahlenen Rinderknochen. Der italienische Regisseur, Autor und Bühnenbildner verstört und betört mit seinen bildgewaltigen Theater- und Operninszenierungen, mit denen er durch die ganze Welt tourt.
Als er zum Zoom-Interview auf dem Bildschirm erscheint, trägt Castellucci eine Brille mit dickem, schwarzem Rahmen. Sie unterstreicht seinen Ruf als Theater-Intellektueller. Im Gespräch wirkt er melancholisch. Zurzeit befindet sich der Künstler in seiner Geburtsstadt Cesena, hier bereitet er sich auf seine kommenden Inszenierungen in Aix-en-Provence und bei den Salzburger Festspielen vor.
Davor liefert Castellucci den Prolog der Wiener Festwochen, wo er Mozarts „Requiem“ auf die Bühne bringt. Nach der Premiere am 1. April wird ihm Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien überreichen.
Falter: Herr Castellucci, Sie haben einmal beschrieben, dass Sie die Musik Ihrer Inszenierungen so oft wie möglich hören. Wie viele Stunden haben Sie mit Mozarts „Requiem“ verbracht?
Romeo Castellucci: Ich habe es mir abertausend Mal angehört. Durch die Wiederholung taucht man in die Materie ein, man saugt die Musik und ihre Philosophie auf. Das ist eine Methode, die Intelligenz zu überwinden. Intelligent zu sein macht im Theater überhaupt keinen Sinn. Man muss sich verlieren und in einen schwarzen Wald treten.
Mozart wollte, dass sein „Requiem“ im Rahmen einer Begräbnismesse aufgeführt wird. Sie zelebrieren damit das Leben. Warum?
Castellucci: Beim Hören der Musik habe ich festgestellt, dass sie paradoxerweise fröhlich ist. Die Musik hat etwas Vitales, obwohl es sich um eine Totenmesse handelt. Es gibt darin explosive, fast freudige Momente voller Leben. Das macht das Genie Mozarts aus. Bei Mozart bleibt immer etwas im Verborgenen. Deswegen finde ich seine Musik auch so modern, sie verlangt ein zeitgenössisches Hören. Ich habe eng mit dem Dirigenten Raphaël Pichon zusammengearbeitet. Er hat für die Inszenierung andere Stücke von Mozart und gregorianische Gesänge eingefügt, um dem Ganzen eine dramatische Struktur zu geben.
Wie feiern Sie das Leben auf der Bühne?
Castellucci: Ich arbeite mit Folkloretänzen, weil sie als Tänze für die Gemeinschaft etwas Rituelles und sehr Lebendiges an sich haben. Der Chor tanzt und singt zugleich. Seine Erschöpfung ist Teil der Inszenierung. Die Müdigkeit ist ein Geschenk, eine Opfergabe der Sänger an die Zuschauer. Ein Augenblick der Empathie.
Seit zwei Jahren leben wir in einer Pandemie, die die gesellschaftlichen Wunden offenlegt. Jetzt kommt der Krieg in der Ukraine dazu. Wie lautet Ihre künstlerische Antwort darauf?
Castellucci: Sobald im „Requiem“ der Tanz beginnt, erscheinen auf der Rückwand Projektionen ausgestorbener Tierarten, Sprachen oder Völker; verschwundener Architektur und Gemälde, Gletscher und Gewässer. Wir beginnen beim Mammut und kommen über die jüngere Vergangenheit bis ins Hier und Jetzt mit dem zerstörten Theater in Mariupol. Dieser Prozess hört nie auf: die Sixtinische Kapelle, die Pyramiden von Gizeh – alles wird eines Tages verschwunden sein.
Deprimiert Sie das?
Castellucci: Einerseits ist das traurig, andererseits hat man so die Möglichkeit, das Schöne zu bejahen. Die Schönheit und das Verschwinden sind aneinander gebunden. Das zeigt die Fragilität unseres Daseins. Unser Schicksal auf Erden ist es zu sterben. Wir schätzen Schönheit, weil sie vergänglich ist. Wenn man eine Blume ansieht, ist sie schön, weil sie gleichzeitig stirbt. Wirklich Tragisches verursacht der Mensch, etwa durch Bomben, wie wir aktuell wieder erleben.
Wie haben die Pandemie und der Ukraine-Krieg unsere Sicht auf den Tod verändert?
Castellucci: Die Pandemie ist ein natürliches Phänomen und Teil des Kreislaufs der Natur. Viren existieren und sind ein wichtiger Motor für das Leben. Es gibt Millionen verschiedener Virusarten. Dieses hier ist für Menschen gefährlich. Es ist die Illusion unserer anthropozentrischen Sicht zu glauben, das Coronavirus wäre unser Fehler. Vielmehr ist es ein weiterer Ausdruck der Natur.
Spüren Sie eine besondere Nähe zur Natur?
Castellucci: Ich liebe es, in der Natur zu sein, weil sie uns Menschen gegenüber völlig indifferent ist. Für die Natur sind wir Tiere. Man kann durch ein Virus oder einen Tiger getötet werden. Viel größer ist dagegen meine Angst vor diesem inakzeptablen Krieg. Es ist wirklich schrecklich. Ich fürchte jeden Tag, dass etwas noch Schlimmeres passiert: ein dritter Weltkrieg, eine Atombombe. Wir stehen am Rande des Abgrunds, und ich befürchte, es gibt keinen Weg zurück.
Haben Kunstschaffende die moralische Verpflichtung, sich politisch zu äußern? Sollten russische Künstlerinnen und Künstler sich also öffentlich vom Krieg distanzieren?
Castellucci: Wenn sich jemand nicht deklariert, sollten wir mit unserem Urteil vorsichtig sein. Wir dürfen den Menschen nicht die Pistole an die Brust halten. Oft haben diese Künstlerinnen und Künstler Familie. Wenn man geschützt im Ausland lebt, ist das etwas anderes. Natürlich wünsche ich mir, dass man Putins Wahnsinn verurteilt. Jemanden dazu zu zwingen, ohne die Umstände zu kennen, finde ich aber falsch. Statt eines kulturellen Embargos sollten wir die russischen Kunstschaffenden dabei unterstützen, sich auszudrücken. Die Kultur ermöglicht es uns nachzudenken. Russische Kunst zu isolieren ist der falsche Weg.
Sie haben sich nie in Ihrer Meinungsfreiheit beschnitten gefühlt?
Castellucci: Als Künstler kann ich mich ausdrücken, wie ich will. Zwei Mal gab es meinetwegen eine parlamentarische Anfrage, dabei kam aber nichts heraus, und ich konnte meine Arbeit fortsetzen.
Was war passiert?
Castellucci: Es ging um das Stück „Sul concetto di volto nel figlio di Dio“, das wir auch bei den Wiener Festwochen aufgeführt haben. Ein Sohn pflegt darin seinen dementen, inkontinenten Vater. In einer Szene werfen Kinder Handgranaten auf ein Christus-Bild. Ich wurde von den Faschisten und den fundamentalen Katholiken attackiert. Mir wurde Blasphemie vorgeworfen. Meine Show konnte ich trotz der Auseinandersetzungen in verschiedenen Ländern immer zeigen. Dennoch kriege ich in letzter Zeit immer wieder eine andere Art von Zensur zu spüren.
Inwiefern?
Castellucci: Nicht in Europa, aber in Amerika. Da herrscht eine moralische, neopuritanische Zensur, die mit der Cancel-Culture zu tun hat. Einem Künstler zu sagen, du darfst etwas nicht machen, ist eine andere Art von Faschismus. Für Künstler ist es in den USA sehr schwierig geworden. Früher habe ich meine Arbeit dort oft gezeigt, jetzt ist das aus Gründen der Zensur nicht mehr möglich. In Russland ist die Zensur gewalttätig, in den USA findet sie auf einer anderen Ebene statt.
Inwiefern beeinflussen diese Debatten um politische Korrektheit und die sogenannte Wokeness die Inhalte Ihrer Arbeit?
Castellucci: Angesichts des Krieges ist das alles ohnehin bedeutungslos, jetzt haben wir echte Probleme. Das Massaker ist echt und nicht nur eine Meinung. Der Krieg verändert auch unsere Beziehung zur Kunst. Nicht nur, wie wir Kunst machen, sondern auch die Art, ein Kunstwerk zu lesen. Alles verändert sich für alle Menschen. Wir blicken dem Ende entgegen, ich spüre das.
Sie scheinen sehr traurig zu sein über den Zustand der Welt.
Castellucci: Ich bin kein Spezialist und lese nur die Nachrichten. Aber es ist sehr ernst und ich habe große Angst.
Nicht nur im „Requiem“, sondern in vielen Ihrer Stücke spielt der Tod eine Rolle. Warum?
Castellucci: Im Theater dreht sich alles um den Tod, selbst dann, wenn wir lachen.
Wie meinen Sie das?
Castellucci: Ich werde Ihnen mit einem Zitat des amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut antworten: „Jedes Kunstwerk ist ein Tanz mit dem Tod“. Unser Bewusstsein für die Endlichkeit ist der Ursprung der Zivilisation. Es gibt Philosophen, die sagen, dass wir die Sprache erfunden haben, weil wir wissen, dass wir sterben. Wir lernen das schon als Kinder. Die Sprache ist die Reflexion dieses Schicksals. Es gibt eine Beziehung zwischen der Sprache und dem Tod. Deshalb basiert auch die griechische Tragödie auf Gewalt.
Oder die Griechen waren alle Sadisten?
Castellucci: Die Kunst und Kultur kanalisiert die Gewalt und hält sie so von uns fern. Deswegen ist ein kulturelles Embargo ein Widerspruch in sich, vor allem während eines Krieges.
Dialoge spielen in Ihren Arbeiten kaum eine Rolle. Misstrauen Sie der Sprache?
Castellucci: Ich glaube nicht an das Theater als Zweig der Literatur. Theater ist eine fleischliche Kunst. Es besteht aus Körpern und ist für Körper gemacht. Es gibt im Körper zwar das Gehör und das Wort, aber das Theater ist kein Ort der Sprache. Bilder hingegen sind omnipräsent und wir deren ständiger Betrachter. Das Theater hat die Kraft, sich einem einzigen Bild zu widmen. Ein Bild ist etwas Komplexes, es stellt uns die Frage, wer wir sind. Es ist wie ein Spiegel, in den man blickt.
Fühlen Sie sich der bildenden Kunst, die Sie auch studiert haben, näher als dem Theater?
Castellucci: Ich habe mich immer mit Kunstgeschichte und nie mit der Geschichte des Theaters beschäftigt. Für mich ist es sehr wichtig, ins Museum zu gehen, um die antike Kunst zu betrachten. Die spirituelle Erfahrung spielt eine große Rolle. Aber ich sehe mich schon primär als Theatermacher und nicht als bildender Künstler.
Anfangs haben Sie Landwirtschaft studiert.
Castellucci: Ja, das war ein Fehler. Ich war damals ein Junge, der von nichts eine Ahnung hatte. Ich habe die Tiere geliebt und wollte mit ihnen leben. Als ich gemerkt habe, was die Landwirtschaft für ein schrecklicher Ort für diese Tiere ist, habe ich damit aufgehört. Auch, weil durch Zufall die Kunst in mein Leben getreten ist. Für mich ist sie das größte menschliche Abenteuer.
Als Sie in Cesena angefangen haben, Theater zu machen, hatten Sie rasch den Ruf als Skandalregisseur. Provozieren Sie gerne?
Castellucci: Das ist lange her. Aber das Wort Skandal ist mir lieber als der Begriff Provokation. Zu provozieren bedeutet gar nichts. Im Bereich der Kunst ist die Provokation für mich das Allerletzte. Skandal hingegen ist ein wunderbares Wort. Es kommt aus dem Griechischen, skandalon: Das ist ein Stein auf deinem Weg, über den du stolperst. Wir brauchen den Skandal, den Schock. Es braucht etwas, das den Zuschauer zwingt, den Blick und das Gehör neu zu kalibrieren. Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und sagen, dass es ohne Skandal kein Theater gibt. Baudelaire hat das gesagt, als er vom Schock in der Kunst gesprochen hat: Er weckt einen auf.
Was kommt nach dem Tod?
Castellucci: Ich habe keine Ahnung. Leider bin ich kein gläubiger Mensch.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Castellucci: Nicht wirklich. Der Übergang ist beängstigend, der körperliche Schmerz, aber der Tod selbst? Er ist vielleicht so, als wäre man nie geboren worden. Sollte es doch ein Leben nach dem Tod geben, würde ich gern als Affe wiedergeboren werden.F
Museumsquartier, Halle E, Fr, Sa, Mo, Di 20.00
Romeo Castellucci
(Jg. 1960) ist ein italienischer Regisseur und Mitbegründer der Theatergruppe Socìetas Raffaello Sanzio, die durch radikales, bildmächtiges Theater international heraussticht. Castellucci, vielfach preisgekrönt, gastierte mit seinen beeindruckenden Opern- und Theaterinszenierungen mehrfach bei den Wiener Festwochen und den Salzburger Festspielen