Die Geschichte Albaniens und die Frage der Freiheit
Was Freiheit bedeutet, wird in diesem Buch nicht letztgültig definiert, aber sie ist sein heimlicher Held, der zunächst durch Abwesenheit glänzt. Zu Beginn von "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" umarmt Lea die Büste des Genossen Stalin. Wir schreiben das Jahr 1990 und befinden uns am Rand Europas, in Albanien.
In der Schule lernt die Elfjährige von ihrer bewunderten Lehrerin alles über Lenin, Marx und dessen Lehrer Hangel (alias Hegel) sowie darüber, dass sie im freiesten Land der Welt lebe. Zuhause scheint diese Tatsache weniger greifbar. Das liegt daran, dass Leas Eltern aufgrund ihrer für das Kind ominösen "Biografie" der Partei von "Onkel" Enver Hoxha nicht beitreten dürfen. Dass ihr Vater nicht aus Zufall den Namen des früheren Ministerpräsidenten Xhafer Ypi trägt, erfährt Lea erst nach dem friedlichen Umsturz im Herbst 1990. Die Freiheit, die nun anbricht, bleibt ambivalent, denn sie zeigt die Haifischzähne des Raubtier-Kapitalismus und mündet sieben Jahre später in einen kurzen Bürgerkrieg.
Lea Ypi unterrichtet heute Politische Theorie an der London School of Economics. Bei einem Aufenthalt in Berlin zog sie sich, um den Lockdown zu nützen, in die Schreibkammer zurück, um ein Buch über Albanien zu schreiben, das sich unversehens als Autobiografie entpuppte. Gewidmet ist sie ihrer Großmutter Nini, einer griechischstämmigen, weltklugen Frau, die dem Mädchen innerhalb der von einer schwierigen Ehe geprägten Familie Halt gibt.
Konsequent behält Ypi die Perspektive des Kindes bei, die einen frischen, unschuldigen Blick auf ein düsteres Kapitel Geschichte ermöglicht. Nebenbei erfährt man einiges über ein wenig bekanntes, gebeuteltes Land. Dass sich die junge Frau am Ende des Buchs entscheidet, Philosophie zu studieren, stößt bei ihrer Familie zunächst auf Unverständnis. Nach der Lektüre dieses bewegenden Buchs kann man allerdings gut nachvollziehen, warum Freiheit für Lea Ypi ein schwieriger Begriff bleibt.