Nachrichten aus dem Inneren
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Foto: Lucas Christiansen
Brucknerhaus, Linz, 22. April 2022, kurz nach 21 Uhr. Der Saal ist an diesem regnerisch-kühlen Freitagabend bis auf den letzten Platz gefüllt, trotz der gesalzenen Eintrittspreise von 60 bis 70 Euro waren die Karten für das Gastspiel von Bilderbuch in der oberösterreichischen Hauptstadt schnell ausverkauft.
Die ersten Konzerte zum neuen Album „Gelb ist das Feld“ gibt das Wiener Popquartett ausschließlich an exklusiven Orten. Los ging es am 8. April in der Hamburger Elbphilharmonie, unter anderem folgten die Philharmonie Berlin, das große Festspielhaus in Salzburg – und nun eben das Brucknerhaus.
Ein mit gemütlichen orangen Sesseln bestückter Prachtbau direkt an der Donau, dessen Glasfassade den Blick freigibt auf das Ars Electronica Center, die Donaupromenade und den Pöstlingberg. Die Wiener Philharmoniker haben das Haus im März 1974 eröffnet, dirigiert von Herbert von Karajan; die ausgetüftelte Architektur bietet speziell klassischer Musik perfekte akustische Bedingungen.
„Jean Sibelius – Erbe und Neurer“ verkündet eines der Plakate im Foyer. Wassili Petrenko und das Royal Philharmonic Orchestra treten unter diesem Motto am 15. September auf, tags darauf folgen Werke von Richard Strauss und Alban Berg. Musik für Bildungsbürger also.
Teenager sind auch heute die Ausnahme; auffällig viele Kinder aber freuen sich in Begleitung ihrer Eltern auf Bilderbuch. Eine kleine Sensation liefert bereits das nirgendwo angekündigte Vorprogramm: Uche Yara, eine junge Oberösterreicherin, spielt solo mit Stimme, Gitarre und Effektgeräten. Wie eine knietief in Funk watende Mischung aus den beiden US-amerikanischen Songwritergrößen Tracy Chapman und Ani DiFranco wirkt sie; die Songs ungemein lebendig, die Bühnenpräsenz stark, die Ausstrahlung gewinnend.
Das Sanfte und das Heftige, beides hat bei Yara im selben Lied Platz, die Streicheleinheit und der virtuose Instrumentalpart. Beim Bilderbuch-Abend in der Elbphilharmonie hatte sie ihr erstes Solokonzert mit eigenen Liedern gespielt, durch andere Projekte zuvor aber bereits Bühnenerfahrung gesammelt.
Unter anderem gehört Yara der Liveband von Mavi Phoenix an, mit dem Rapper und Bilderbuch verbindet sie auch das Management. Das Publikum im Brucknerhaus hat sie sofort auf ihrer Seite; auch die lokal gefärbte Begrüßung, mit der Uche Yara die betont internationale Musik charmant kontrastiert, kommt gut an: „Griaß eich, i gfrei mi!“
Bilderbuch, die Ende 2021 einen Monat lang in den USA auf Tour waren und zuletzt beim großen Ukraine-Benefizkonzert im Praterstadion ihr Wiener Bühnencomeback feierten, geben derzeit keine Interviews. Musik und Songtexte sollen bei ihrem siebenten Album für sich sprechen, lässt das Management verlauten. In eine ORF-Kamera sprach Maurice Ernst, der Sänger der Band, zum Tourauftakt aber doch ein paar markante Sätze.
„Man besudelt ein bisschen diese österreichischen Denkmäler“, erklärte er in der ZiB 1 die ungewöhnliche Auswahl der Auftrittsorte. „Diese Kulturgeschichten, die eigentlich Tourismus sind. Und das finde ich ganz schön, dass man den Leuten ein bisschen was zurückgeben kann. Nämlich den Leuten, die wirklich vielleicht jetzt leben und nicht in der Vergangenheit.“
Nostalgie war Bilderbuch immer schon fremd, das Schwelgen in einer vermeintlich großen Geschichte hat sie nie interessiert. Wer braucht schon Hans Krankl und die ewige Folklore um Cordoba, also den Sieg des Fußballnationalteams bei der Weltmeisterschaft 1978 über Deutschland, wenn wir doch gerade David Alaba & Co haben, fragte Maurice Ernst vor einigen Jahren, als sich seine Band gerade neu erfunden und den Nimbus als Underground-Kapelle abgestreift hatte.
Und warum, so schwang dabei klar mit, ewig vor der tragischen Figur Falco im Austropop-Herrgottswinkerl knien, wenn draußen auf der großen Bühne doch Bilderbuch spielen, hier und jetzt?
Das mag großmäulig gewirkt haben, damals, als Bilderbuch 2013 nach Jahren als Indie-Gitarrenrocker mit dem innovativen Über-Song „Maschin“ ihren großen Durchbruch feierten und die Denkerstirn und Partylust einende studentische Attitüde der frühen Jahre durch kunstvoll inszenierte Arroganz und große Innovationslust ersetzten. Doch der Lauf der Dinge gab dem Sänger recht: Natürlich spielte Falco mit seinem Nummer-eins-Hit in den USA in einer ganz anderen Erfolgsliga.
Er war allerdings ein One-Trick-Pony, angewiesen auf die Hilfe kreativer Produzenten; nach einigen wenigen Jahren des spektakulären Erfolgs kämpfte er bis zu seinem frühen Tod mit steigender Verzweiflung um weitere Hits. Bei Bilderbuch läuft das grundlegend anders. Ihre Formel lautet nicht „Reproduktion“, sondern „Erneuerung“. Es ginge stets um die Suche nach dem Vibe, hat Ernst im Gespräch mit dem Falter einmal erklärt, und diesen Vibe müssten sie mit jedem Album neu finden.
2005 von vier Klosterschülern respektive Stifts-Gymnasiasten aus Schlierbach und Kremsmünster gegründet, erspielte sich das Quartett in den folgenden Jahren mit zwei Alben und unzähligen Konzerten zwar den Ruf als exzellenter Liveact, ihren Liedern fehlte anfangs aber das gewisse Alleinstellungsmerkmal.
Das hatten sie dann, als sich Bilderbuch für die Lieder „Plansch“, „Feinste Seide“ und „Maschin“ 2013 dem Hip-Hop öffneten. Nicht im billigen Crossover-Sinne freilich, sondern als Inspiration, um ihre Gitarrenbandwelt aufregender zu gestalten. Das Album „Schick Schock“ geriet mit Variationen dieser Formel 2015 zum Hit, und Sänger Maurice Ernst wurde als coolster Popsänger im deutschsprachigen Raum gefeiert. Als sexy Gigolo, der große Sprüche klopfen konnte und trotzdem als irgendwie queerer Schnuckelboy durchging.
Anstatt „Maschin“ aber in unterschiedlichen Versionen wieder und immer wieder aufzunehmen, suchte die Band mit neuen Alben stets andere musikalische Ausrichtungen, begleitet von optischen Veränderungen und teils spektakulären öffentlichen Aktionen. Am bekanntesten jene zum utopischen Lied „Europa 22“, dem Traum eines von Grenzen, Nationalismus und Engstirnigkeit befreiten Kontinents; es kündigte 2019 die Platte „Vernissage My Heart“ an.
Auf einer eigens eingerichteten Website konnte man seinen individuellen Bilderbuch-EU-Pass herunterladen. Hunderttausende folgten diesem hochpolitischen Spaß, reichlich Prominenz bis hin zum deutschen Moralapostel-Spaßmacher Jan Böhmermann inklusive. Die folgende Tournee bescherte Bilderbuch Primetime-Auftritte auf den größten Festivalbühnen im deutschsprachigen Raum, mit ihrer spektakulären Show lockten sie im Mai 2019 auch rund 30.000 Menschen zu zwei Konzerten vor Schloss Schönbrunn.
2022 ist wieder alles anders, Musik, Vibe, Stil und Style. „Gelb ist das Feld“, das neue Album, setzt auf harmonieseligen Gitarrenpop ohne offensichtliche Kracher. Statt fiebriger Urbanität tauchen Naturbilder auf, Liebe und Sex sind zentrale Themen. Um Glück geht es, aber auch um Sehnsucht und Enttäuschung.
Neben der steten Lust an der Veränderung charakterisieren Bilderbuch die außergewöhnlichen Songtexte. Maurice Ernst singt auf Deutsch mit vereinzelten englischen Einsprengseln, und wie niemandem sonst abseits des Rap gelingt es ihm, seiner Muttersprache die Kanten zu lassen und sie trotzdem geschmeidig zum Grooven zu bringen.
In „Bungalow“, dem Hit des Albums „Magic Life“ von 2017, gibt es etwa diese Stelle, an der dem Mobiltelefon der Saft ausgeht und Ernst um ein Ladegerät bittet. Eindrucksvoll spielt der Sänger – gegenwärtig ist er auch als eine Synchronisationsstimme des Deix-Ani-
mationsfilms „Rotzbub“ im Kino zu erleben – hier seine Kunst aus: „Babyleihmirdeinenlada“, tanzt es ihm von der Zunge, „Ichbrauchpowerfürmeinakku“.
„Ohne Zweifel einer der besten Songs der letzten zehn Jahre“, urteilte die Zeit kürzlich in einer Hymne auf die Wiener Band; die Süddeutsche Zeitung lehnte sich anlässlich von „Gelb ist das Feld“ noch einen Tick weiter aus dem Fenster. Jakob Biazza beschreibt Bilderbuch dort in einer klug argumentierte Eloge als „die mit Sicherheit lässigste, wahrscheinlich gewiefteste, womöglich aber auch tatsächlich beste und ansonsten eben nur gegenwärtigste Band Europas“.
Zurück ins Brucknerhaus: Bilderbuch sind zwar seit Ewigkeiten in Wien daheim, sie genießen in Linz aber Lokalmatador-Status. Von „Kremsmünster’s Finest“ spricht der unbeholfene Ankündigungstext auf der Website. In Sachen Herkunft ist das zwar nur die halbe Wahrheit, aber sei’s drum, heute Abend werden sie ohnedies als „Linza Buam“ gesehen und gefeiert.
Noch ist kein Ton gespielt, aber eine Handbewegung des Sängers genügt, und alle im Saal stehen, nur oben auf der Galerie bleiben manche vorerst noch sitzen. Konzerte absolvieren Bilderbuch derzeit in sechsköpfiger Besetzung. Vorne links Gitarrist Michael Krammer, daneben Maurice Ernst, Bassist Peter Horazdovsky und Schlagzeuger Philipp Scheibl – seit 2012 an Bord – ganz rechts. Dahinter zur klanglichen Verfeinerung der Jazzmusiker und Experimental-Hip-Hopper Lukas König am zweiten Schlagzeug und die junge Multiinstrumentalistin Katrin Paucz, bekannt als Mitglied des Trios Sharktank, an diversen Saiten- und Tasteninstrumenten.
Los geht es mit vier Liedern des neuen Albums. Riskant, doch das Publikum reagiert wie auf Altbekanntes: Es lässt sich sofort mitreißen, tanzt, applaudiert, jubelt. Insgesamt stehen an diesem Abend gleich elf der 15 neuen Songs auf der Setlist; eine Reihe heimlicher und echter Hits fällt dafür aus dem Programm. Ein ebenso mutiger wie richtiger Entschluss: Trotz geschickt gesetzter Brüche wirkt das Konzert wie aus einem Guss.
Gab es in den vergangenen Jahren stets aufwändige Inszenierungen, etwa mit hunderten tanzenden Sneakers im Hintergrund oder überdimensionalen Bauten auf einer vollgeräumten, bunten Bühne, bleibt diesmal jeglicher Schnickschnack außen vor. Die Band, alle vier derzeit langhaarig, trägt mehr oder weniger gleichförmige Fantasieuniformen, das war’s. Selbst Lichteffekte setzt sie nur zurückhaltend ein.
Das einheitlich hippieske Erscheinungsbild der Musiker betont den Kollektivcharakter. Ein klarer Kontrast zum jahrelangen Spiel mit Bilderbuch als Boygroup, geformt aus vier ganz speziellen Individuen: der Gitarrist das unnahbare Genie, der Schlagzeuger der sympathische Schönling, der Bassist der reflektierte Ruhepol und der Sänger der coole Verführer mit den gockelhaften Posen. Die beherrscht Maurice Ernst immer noch, die leise Ironisierung schwingt freilich stets mit.
„Brucknerhaus!“, ruft er mitten im Konzert, als der Saal längst dampft und, Bestuhlung hin oder her, alles so ausgelassen tanzt, wie es die Umstände eben erlauben. „Anton Bruckner wäre heute stolz auf uns!“ Und dann, einen zustimmenden Jubel später: „Kannst du dich bewegen, Brucknerhaus? Beweg dich, Brucknerhaus!“
Mehr denn je ist an diesem Abend aber auch Platz für Zwischentöne. Wenn der Frontmann sich etwa mit dem Publikum über die Herausforderungen der vergangenen zwei Pandemiejahre austauscht, vom Auf und Ab im Leben und dem Ende von Beziehungen spricht oder ein Lied mit dem Hinweis ankündigt, dass ein derart ausgelassenes Konzert in Zeiten wie diesen keine Selbstverständlichkeit sei. Er meint damit offenbar nicht nur das Virus, er meint auch den Krieg in der erweiterten Nachbarschaft. „Auf die Freiheit! Auf die Menschen! Auf die Zukunft!“, moderiert Ernst „Europa 22“ ein.
Vor fünf Jahren stand Linz nicht am Beginn, sondern am Ende einer langen Tournee. Bilderbuch spielten damals ein großes Open-Air-Konzert in der Tabakfabrik, unweit des Brucknerhauses. Der Sänger hatte zu dieser Zeit offenbar noch eine alte Rechnung mit der Stadt offen. Zwischen zwei Liedern erzählte er die Geschichte der ersten und zugleich letzten Teilnahme seiner Gruppe bei einem Bandcontest, irgendwann in der zweiten Hälfte der Nullerjahre, noch zur Gymnasiastenzeit. Einer der vier Musiker machte gerade Führerschein und hatte Fahrstunde, Bilderbuch trafen knapp zu spät ein, ihre Performance fiel gehetzt aus. Das Urteil der Linzer Jury war erbarmungslos. Sie riet dem Quartett, es doch lieber bleiben zu lassen, das könne nämlich gar nichts werden, fehle es hier doch eindeutig an Ernsthaftigkeit.
Der Jury-Irrtum ist heute eine lustige Fußnoten der Bandgeschichte. Eine andere erzählt vom Ende der Schulkarriere ihres Gitarristen Michael Krammer, der 2008 zu Bilderbuch kam. Er hatte das Musik-BORG in Linz besucht, den Anforderungen in seiner so sensiblen wie freigeistigen Persönlichkeit aber nicht entsprochen.
Krammer war ohne Abschluss abgegangen, um sich ausschließlich der Musik zu widmen. Eines der vielen „Nicht genügend“ hatte er im Fach Gitarre kassiert, weil er beim öffentlichen Vorspiel fehlte. Krammer, der damals jede freie Minute mit seinem Instrument verbrachte und nach eigenen Spieltechniken suchte, fand dafür schlichtweg keine Zeit – musste er doch daheim Gitarre üben. Das freie Forschen im Jugendzimmer war ihm ungleich wichtiger als die fehlerfreie öffentliche Reproduktion vorgegebener Kompositionen.
„Plansch“ haben Bilderbuch derzeit nicht im Programm, sein in diesem Lied traditionell hinter dem Kopf gespieltes Gitarrensolo fehlt also. Dafür darf der Gitarrist bei „Spliff“ in einen Geschwindigkeitsrausch verfallen und gleich darauf zu einem doppelhälsigen Saiteninstrument greifen. Ein klobiges Ungetüm aus vergangenen Zeiten, das sich aber doch nahtlos einfügt in den wunderbar weichen Bilderbuch-Kosmos 2022. Das damit gespielte lange Intro zum Pandemie-Blues „Daydrinking“ beschert dem Gitarristen einen weiteren Höhepunkt des Abends.
„Maschin“, das Lied, das nicht nur die Bandgeschichte, sondern den gesamten österreichischen Pop verändert hat, setzt den Schlusspunkt. Am Ende sind Maurice Ernst zwei Gitarrensaiten gerissen, eine Reminiszenz an die ungestüme Welteroberungslust und überbordende Energie der frühen Rocktage. Er dreht sich sichtlich erfreut zu Peter Horazdovsky, dem Bassisten, mit dem er bereits ein halbes Leben zusammenspielt. Der grinst zurück und deutet „Daumen rauf!“. Eine kurze Geste, und doch erzählt sie viel über die Magie dieser Band und ihre schiere Lust an der Musik.
Nach knapp zwei Stunden ist das Konzert vorbei. Vom speziellen Rahmen abgesehen lief es ganz ohne Spektakel ab. Und präsentierte doch einmal mehr die besten Bilderbuch, die es je gab.
Wie die diversen Hochkultur-Termine sind auch die drei Open-Air-Konzerte in der Arena längst ausverkauft. Im August spielen Bilderbuch aber als Headliner beim Frequency-Festival in St. Pölten – und am 13. Mai haben sie ihre Finger bei der Eröffnung der Wiener Festwochen auf dem Rathausplatz im Spiel. F
Bilderbuch live:
Arena, Open Air, 5. bis 7.5., 18.00 (Einlass). Alle drei Termine sind längst ausverkauft
In Graz spielen Bilderbuch von 30.6. bis 2.7. (Kasematten Open Air), für den letzten der drei Tage sind derzeit noch Tickets verfügbar