„Scham ist eine Ressource der Solidarität“
In seinem jüngsten Buch entdeckt der Philosoph Robert Pfaller die Scham als positive soziale Kraft und unternimmt eine Ehrenrettung der Ehre. Ein Gespräch über Screwball-Comedys, Netflix-Serien, Franz Kafka und Zinédine Zidane

Foto: Peter Rigaud
Es vergeht kein Tag, ohne dass sich Menschen verletzt, gekränkt und beschämt fühlen und daraus Ansprüche auf Abbitte, Wiedergutmachung, Kompensation ableiten. Verletzungen sind zur harten politischen Währung geworden: Schnell ist jemand als Rassist und Sexist identifiziert und gerät in einen Shitstorm mit den bekannt verheerenden Folgen: „keine Möglichkeit der Anhörung, der Klarstellung und der Rechtfertigung. Ankläger und Gericht sind identisch, und der Angeklagte hat eigentlich nur eine Möglichkeit: zu verschwinden.“
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller, aus dessen soeben erschienenem Buch das Zitat stammt, ist für sein Unbehagen an der Identitätspolitik bekannt. In „Erwachsenensprache“ (2017) kritisierte er die „Mikropolitiken der Rücksicht auf Empfindliche“ mit ihren Geboten des politisch korrekten Sprachgebrauchs als Strategie der Bevormundung und der Verschleierung von Macht- und Klassenverhältnissen.
In „Zwei Enthüllungen über die Scham“ denkt Pfaller in diese Richtung weiter, konzentriert sich dabei aber auf das im Titel genannte Phänomen, das bekanntlich das Gefühl auslöst, am liebsten vom Erdboden verschluckt zu werden, also: zu verschwinden. Anknüpfend an die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen zeigt er, dass die Scham keineswegs, wie lange angenommen, nur außengeleitet und damit moralisch „weniger nobel“ als das vom eigenen Über-Ich verhängte Schuldgefühl ist, sondern dass unsere Zeit, in der es üblich geworden ist, Menschen eher aufgrund ihrer Identität anzugreifen als wegen ihrer Haltungen und Positionen, „stärker einer Kultur der Scham [ähnelt] als einer der Schuld“.