Buch der Stunde

Hochbegabt und altklug: Eine Jugend in Feuer und Eis

DOMINIKA MEINDL
Feuilleton, FALTER 25/22 vom 22.06.2022

Es könnte ein Idyll sein: Eine junge Wiener Patchworkfamilie beitreibt einen Campingplatz im polnischen Naturschutzgebiet, in dem Wölfe gegen Saisonende ihre Scheu ablegen. Aber schon steht in Kaśka Brylas Roman die rachsüchtige Vergangenheit vor der Tür.

Zwei Zeitebenen laufen auf ein Ziel zu: einen Brandanschlag als fatale Vergeltung für ein gemeines Verbrechen, das einst in Wien verübt wurde. Der Rückblick beginnt mit dem ersten Schultag Igas, Sašas bester Freundin, in der Maturaklasse eines sauteuren Privatgymnasiums. Die hochbegabte Schulschwänzerin bleibt nicht lange Außenseiterin, bald bildet sich um die charismatische Longboardfahrerin eine Bande: zwei verwöhnte Lyrik-Schwärmer, die stilbewusste Jess sowie der talentierte, fresssüchtige Ras.

Die Jugendlichen sind politisch und sexuell anders denkend, altklug obendrein. Besonders Iga: "Alles war möglich und alles verging." Der Verrat der Erwachsenen ist der rote Faden im Buch. Igas Mutter hat schon lange einen Liebhaber, die Tochter muss für sie lügen. Und als sich die begehrte Französischlehrerin als Mitläuferin entlarvt, nimmt das Unheil seinen Lauf.

Kaśka Brylas zweiter Roman hätte ein Krimi werden können. Der in Wien und Warschau aufgewachsenen Vielschreiberin ist stattdessen ein höchst zeitgenössischer Entwicklungsroman gelungen, samt fantastischer Bezüge zu Guy de Maupassants Novelle "Der Horla". Die Erinnerungen Sašas lassen offen, ob innere Dämonen oder reale Geschehnisse zum Verlauf der fatalen Nacht geführt haben.

Da ist viel jugendlicher Gefühlsextremismus, aber das schadet der Geschichte nicht. Die Stränge sind so vif gewoben, dass "Die Eistaucher" sowohl alte Belletristikfüchse als auch die lesefreudige Jugend ansprechen sollte. "Literatur überhaupt. Das Leben war voll genug, wozu Geschichten?", fragt sich Iga einmal. Wenn sie so stark erzählt werden, stellt sich diese Frage nicht.

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Kaśka Bryla: Die Eistaucher. Residenz, 320 S., € 24,-

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