NACHSPIEL

Die Kulturkritik der Woche

Genderwahn und Cancel-Culture an der Humboldt-Uni in Berlin. Was war da schon wieder los?

Gerhard Stöger
Feuilleton, FALTER 27/22 vom 06.07.2022

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Marie-Luise Vollbrecht sollte an der Berliner Humboldt-Uni am Sonntag darüber referieren, warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe. Sie kam nicht dazu, ihr Vortrag wurde abgesagt. "Gecancelt", wie das heute mit rechtem Spin gern genannt wird. Vorangegangen war dem Nichtauftritt der Protestaufruf einer Gruppe Studierender. "An unserer Uni gibt es keinen Platz für Queerfeindlichkeit", hieß es darin, und aufgeregt martialisch: "Wir sehen uns auf der Straße!"

Die Posse beginnt mit einer als wissenschaftliche Auseinandersetzung getarnten Polemik in der Welt. Unter dem Titel "Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren" schrieben fünf Menschen aus dem Bereich der Naturwissenschaften, darunter Vollbrecht, über die angebliche mediale Fehlinformation der "Vielgeschlechtlichkeit". Ein recht offensichtlicher Fall konservativen Genderwahns also - jede halbwegs aufgeklärte Gynäkologin mit mehr als einer Handvoll Geburtsbegleitungen wird bestätigen, dass die biologischen Kategorien "männlich" und "weiblich" im Kreißsaal keineswegs immer genügen. Was es anrichtet, wenn Kinder in von außen zugeschriebenen geschlechtlichen Identitäten aufwachsen, die ihrem Empfinden nicht entsprechen, ist wiederum bei Psychologen zu erfahren.

Gut also, dass Vollbrecht wieder ausgeladen wurde? Mitnichten. Anstatt die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen und einer Wissenschaft offenbar mit Ideologie verwechselnden Biologin unaufgeregt mit den besseren Argumenten zu kommen, schaffen Kritiker so die nächste potenzielle Märtyrerin einer angeblichen "Cancel-Culture". Bei aller Sympathie für emanzipatorischen Aktivismus: Konstruktiv geht dann doch anders.

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