NACHSPIEL

Die Kulturkritik der Woche

Obacht, Shakespeare ist kein Ponyhof! Die Lektüre von Welt-Literatur könnte Traumata triggern

Klaus Nüchtern
Feuilleton, FALTER 33/22 vom 17.08.2022

Unlängst traf ich einen Freund, einen pfiffigen Kopf, politisch klar links. Er hatte beschlossen, sich ein Jahr lang nicht zur "Identitätspolitik" zu äußern, war aber in kürzester Zeit gescheitert, weil das, wie er stöhnend anmerkte, einfach nicht machbar sei. Mir geht's ähnlich. Ich habe einen Schwur geleistet, das C-Wort nicht mehr zu verwenden. Sie wissen schon: diesen Begriff aus der "rechten Kampfrhetorik", der ein im Feuilleton hysterisch aufgebauschtes Phänomen bezeichnet, das in Wirklichkeit gar nicht existiert, weil bei uns eh jede:r alles sagen kann!

Und natürlich kann man auch weiterhin alles lesen. Wie das rechtsradikale Boulevardblatt The Times dieser Tage behauptet hat, sind allerdings über 1000 literarische Werke, nun, selbstverständlich nicht ge****elt, aber halt als Pflichtlektüre gestrichen worden; darunter auch Klassiker von Chaucer bis Shakespeare und von Jane Austen bis Emily Brontë. Begründet wird der curriculare Kahlschlag an britischen Universitäten damit, dass die Lektüre von Agatha Christie, Charles Dickens & Co für manche eine unzumutbare emotionale Herausforderung darstellen und traumatische Erlebnisse triggern könnte.

An der Universität von Essex führten die Can-, die Zens-, Pardon, die Anpassungsanstrengungen dazu, dass der Roman "Underground Railway" des schwarzen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead von der Leseliste genommen wurde, weil dessen Darstellung der Sklaverei "zu drastisch" sei. Hat der Autor übertrieben? War's am Ende doch nicht so schlimm? Wahrscheinlich schon, aber damit kann man sensiblen jungen Menschen doch nicht kommen. Wollten diese tatsächlich mit der Realität konfrontiert werden, würden sie doch nicht ausgerechnet Literatur studieren!

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