Ein Land in Geiselhaft
Politisch bestellte Karrieristen am Ruder, die Beamtenschaft in der inneren Emigration und eine zusehends resignierte Zivilgesellschaft: Um Österreich ist es nicht gut bestellt. Was es nun zu tun gilt - ein Gastkommentar.

Illustration: Schorsch Feierfeil
Ende Juli schied die Allgemeinmedizinerin Lisa-Maria Kellermayr aus dem Leben. Die oberösterreichische Ärztin hatte sich mit viel Energie dem Kampf gegen Corona gewidmet. Sie wurde zum Opfer einer Hasskampagne radikaler Coronaleugner, die die Ärztin mit Drohungen und Hassnachrichten in den Tod trieben. Die Ärztin hatte sich mehrfach an die Medien gewandt. Die Unterstützung von öffentlichen Stellen war unzureichend, eine ernsthafte Strafverfolgung fand zu Lebzeiten Kellermayrs nicht statt.
Die Tage nach dem Tod Lisa-Maria Kellermayrs waren von einer eigentümlichen Stimmung gekennzeichnet, die symptomatisch für die Lage von Politik und Gesellschaft ist. Der Tod der Ärztin berührte viele Menschen. Gleichzeitig blieb die Polarisierung bestehen, die Hasswelle rollte weiter durch die sozialen Medien. Während der Fall Eingang in ausländische Medien fand, sich deutsche Regierungspolitiker äußerten, schwieg die österreichische Regierungsspitze über viele Tage, ebenso wie der oberösterreichische Landeshauptmann und die Behörden, die der Ärztin Geltungssucht unterstellt hatten. Sie waren sprachlos im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie über gar keine Sprache verfügen, die einer solchen Situation gerecht wird. Große Kundgebungen fanden statt, allerdings nicht initiiert von Ärztekammer oder der Gewerkschaft, sondern auf Initiative der Einzelperson Daniel Landau. Er hatte auf Social Media zu den Kundgebungen aufgerufen.
Erfolgreiche Staaten und starke Gesellschaften bauen in der Regel auf mehrere Pfeiler auf. Politik, Medien, Verwaltung, Wissenschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft spielen im besten Fall zusammen. Sind eine oder zwei dieser gesellschaftlichen Säulen vorübergehend schwächer, so schadet es nicht, wenn die anderen Sektoren stark sind und das ausgleichen. Ein solcher Ausgleich findet in Österreich seit Jahren nicht mehr statt. Zahlreiche wichtige Felder der Gesellschaft sind in einer schweren strukturellen Krise. Das Land scheint wie gelähmt, trotz des Potentials, das unter der Oberfläche schlummert, das oft spürbar ist und den Wohlstand vieler noch erhalten konnte.