Newton

Kein Fotograf ist so berühmt wie Helmut Newton, sein offensiver Stil revolutionierte die Modefotografie. Eine Schau im Kunstforum zeigt ausgewählte Arbeiten

Nicole Scheyerer
FALTER:WOCHE, FALTER 41/22 vom 11.10.2022

„Crocodile“, Pina Bausch Ballett, Wuppertal 1983 (Foto: Helmut Newton Foundation)

Alle Models bräuchten dieselbe Intimfrisur. Mit dieser Anweisung überraschte Helmut Newton 1980 beim Shooting seiner legendären Fotoserie „Naked and Dressed“. Newton hielt damals vier Frauen in exakt derselben Pose fest – erst in Mode und danach splitterfasernackt.

Beim Betrachten der Fotos ziehen die schwarzen und brünetten Dreiecke automatisch die Blicke auf sich – für den heutigen Geschmack sind sie trotz des Stylings noch recht üppig. Das Trimmen der Schamhaare wäre ihnen damals schon peinlich gewesen, erzählt eines der Models im Dokumentarfilm „Helmut Newton. The Bad And The Beautiful“. Aber mit Witzeleien hätte der Künstler die Anspannung schnell wieder gelöst.


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Die filmische Hommage kam 2020 anlässlich des 100. Geburtstags von Helmut Neustädter, wie Newton ursprünglich hieß, in die Kinos. Der Regisseur Gero von Boehm befragte dafür Frauen, die der 2004 verstorbene Starfotograf abgelichtet hatte. Alle Interviewpartnerinnen betonen den Humor des Bad Boy der Modefotografie. Eine Wanderausstellung der Helmut Newton Foundation macht nun Station im Kunstforum Wien. „Der Schwerpunkt liegt auf Modefotografie, darunter auch sehr viel unbekanntes Material“, sagt Kunstforum-Direktorin Ingried Brugger über die Schau, die in eine Zeit vor Brazilian Waxing und Digitalkameras führt.

Die letzte Wiener Retrospektive liegt lange zurück. 1988 zeigte das Museum des 20. Jahrhunderts den 1920 geborenen Berliner, der den Großteil seines Lebens in Paris und Monte Carlo gelebt hat. Auch wenn er Celebrities porträtierte, war Newton doch zeitlebens im Feld der Modemagazine verwurzelt. Seine Handschrift, die Sexiness und Story in gestochen scharfer Optik verbindet, gewann erst ab seinem 50. Geburtstag ihren unverkennbaren Charakter.

Bereits in den 1960er-Jahren gestaltete der „Regisseur der Fotografie“ Modestrecken wie Bildgeschichten, gleichermaßen inspiriert vom Kino Alfred Hitchcocks, Federico Fellinis oder François Truffauts sowie von Polizei- oder Paparazzi-Fotos. Männer interessierten ihn übrigens nicht; sie tauchen nur als weibliche Lustobjekte oder Accessoires und in seinen Starporträts auf.

Im Laufe der Seventies wurden Newtons Storys immer kühner, nicht bloß durch nackte Haut, sondern durch eine aufgeheizte, ja regelrecht gefährliche Stimmung. Nach einem schweren Herzinfarkt 1971 wollte der damals 51-jährige Frauen so darstellen, wie sie ihm selbst am besten gefielen. Seine besondere Vorliebe galt spannerhaften Blickwinkeln. Als „professioneller Voyeur“ legte er sein Auge gleichsam ans Schlüsselloch, um (Männer-)Fantasien von Dominanz und Unterwerfung zu erhaschen.

Heutzutage provozieren Newtons Bilder aus anderen Gründen als zu ihrer Entstehungszeit. In den 1970er- und 1980er-Jahren schluckten Redakteurinnen von Vogue oder Elle ob der unverhohlenen Lüsternheit und des Fetischismus darin. Würden die Designer solch provokante Modestrecken goutieren? Dieser Tage überlegen hingegen Ausstellungsmacher, ob sie Triggerwarnungen aufhängen oder die mittlerweile politisch unkorrekten Sujets gleich ganz weglassen sollen.

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Einen Anflug davon hat die Kunstforum-Leiterin bereits im Vorfeld erlebt. „Es geht anscheinend das Gerücht um, wir würden gewisse Bilder aussparen, um Newtons Werk zu schönen. Das ist natürlich Blödsinn!“, betont Brugger zu der in Wien präsentierten Auswahl.

Den Unmut erregt das Fehlen des berühmt-berüchtigten Aktfotos, das Newton 1978 von Grace Jones machte. Die als Model bekannt gewordene jamaikanische Sängerin und Schauspielerin schmückte damals eingeölt und in Fußketten das Cover des Stern. Alice Schwarzer, Herausgeberin der feministischen Zeitschrift Emma, und mehrere Mitstreiterinnen nahmen das zum Anlass, das Magazin auf „Verstoß gegen die Menschenwürde von Frauen“ zu klagen. Es war die erste Unterlassungsklage wegen Sexismus in Deutschland. Die Initiative scheiterte zwar, sorgte aber für viel Aufmerksamkeit. Man könnte darin auch eine Geburtsstunde der Cancel Culture im deutschsprachigen Raum sehen.

Während das Label „Rassist“ am Weltbürger Newton abglitt, verfing „Sexist“ sehr wohl. Seine Fotos wären zutiefst misogyn, warf ihm die Schriftstellerin Susan Sontag in einer TV-Show vor. Auf Newtons Einwand, er würde die Frauen lieben, entgegnete die Amerikanerin nur, diese Behauptung hätten Frauenfeinde stets parat.

Die Frage, ob Newtons Sexbomben das weibliche Geschlecht ermächtigen oder in Klischees einsperren, bleibt bis heute ein Streitpunkt. In Boehms Doku stellen ihm Porträtmodelle wie die Sängerin Marianne Faithfull oder die Schauspielerinnen Charlotte Rampling und Isabella Rossellini einen Persilschein aus. Nie zuvor hätten sie sich so stark, frei und begehrenswert gefühlt wie vor der Linse des mutmaßlichen Sexisten. „Newton ist das Gegenteil eines alten, weißen Mannes, der einen geilen Blick auf junge Frauenkörper wirft“, findet auch die Chefin des Kunstforums. „Vielmehr inszeniert er weibliche Nacktheit so, dass ihre Erotik aggressiv wirkt, als das Gegenteil eines Opfers.“

Alice Schwarzer legte 1993 noch einmal kräftig nach. In ihrem Artikel „Newton: Kunst oder Propaganda“ brachte sie gewisse Inszenierungen in Verbindung mit faschistischer Ästhetik. Als Mann und Jude wäre Newton potenzieller Täter und potenzielles Opfer zugleich. „Er hat sich entschieden. Er hat sich auf die Täterseite geschlagen“, schrieb Deutschlands prominenteste Feministin. Aber sie schnitt sich mit diesem Artikel ins eigene Fleisch. Da Emma Newtons Fotos „hochgewachsener blonder Gretchen, glänzender schwarzer Sklavinnen und lüsterner Herrinnen, die ihren Herrn suchen“, ohne Genehmigung veröffentlichte und Newton klagte, wurde das Magazin zu 76.000 D-Mark (rund 38.000 Euro) Schadensersatz verurteilt.

Der Vorwurf, ein vor den Nazis Geflüchteter würde faschistische Schönheitsideale fortschreiben, war heftig. Newton begeisterte sich vielmehr für die Weimarer Republik und die wilden 1920er-Jahre. Kindheitsfotos zeigen Klein-Helmut mit Samtkragen und im Matrosenanzug, wie es sich für den Filius eines Knopffabrikanten geziemte. Mit zwölf bekam das Einzelkind seine erste Kamera, mit 16 Jahren begann der Schulabbrecher eine Lehre im Atelier von Else Neuländer-Simon alias Yva. Später erzählte Newton, dass er von der Mode- und Porträtfotografin alles gelernt und „den Boden unter ihren Füßen vergöttert“ hätte.

Während Newton 1938 die Flucht nach Singapur gelang, wurde seine Lehrmeisterin im KZ ermordet. Von Asien ging der Fotograf nach Australien, wo er erst in ein Internierungslager und dann zum Militär musste. Schließlich machte der eingebürgerte „Aussie“ in Melbourne ein Fotostudio auf und traf dort seine lebenslange Gefährtin June.

Die Ausstellung zeigt ein Mannequin mit ausladendem Hut aus dem Jahr 1958, das noch dem Stil französischer Haute Couture folgt. Was für ein Unterschied zu den Farbfotos zehn Jahre später, in denen Newton ein schwarzes Model mit bunter Perücke und Minimode des Designers André Courrèges tanzen ließ.

Bereits sein erster Fotoband „White Women“ von 1976 demonstriert, was Newton jenseits der Modeshootings besonders fesselte. Das Cover zeigt den Allerwertesten einer Frau, die nur Strapse und Pumps trägt. Auch Playboy-Herausgeber Hugh Hefner schätzte diese Bilder von perfekten Brüste und Endlosbeinen in High Heels, die Anspielungen auf lesbische Lust und Sadomasochismus.

In seinen gewagtesten Fotos ging Newton an die Grenzen des sogenannten „guten Geschmacks“. Da kniet ein Model in Stiefeln von Hermès auf allen vieren im Bett und trägt einen Sattel derselben französischen Marke auf ihrem Rücken. Ihre Miene wirkt vielmehr herrisch als devot. Wer gibt hier wem die Sporen?

Dann wieder lässt der Fotograf eine Frau im Blümchenkleid breitbeinig wie ein Kerl dasitzen und den Hosenträger vor ihr unverhohlen taxieren. Sujets wie „Woman examining man“ für Calvin Klein machte Newton in den Seventies keiner nach. Allein die Art, wie er Schatten einsetzte, lohnt die Beschäftigung mit seinem Œuvre.

Aber was ist nun Newtons „Legacy“, sein Vermächtnis? „Er hat die Modefotografie durch eine herausfordernde, oft aggressive Bildsprache revolutioniert und Geschichten von Entfremdung, aber auch von großer Innigkeit erzählt“, sagt Brugger und schwärmt von dem unerreichten Charakter seiner Glamour-Ästhetik.

Der Ruf von Newtons Frauenbild mag zwar mies sein, seine Fashionfotos sind aber weit vielfältiger – und modernisierten den Zeitgeist auf ihre Weise mit. Dass er Achselbehaarung sinnlich fand, erschien US-Medien pervers. Der Trend „The bush is back“, den die Vogue 2018 verkündete, hätte Newton sicher amüsiert.F


Helmut Newton. Legacy: Kunstforum Wien, 19. Oktober bis 15. Jänner 2023

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