Jede Geschichte hat zwei Seiten, auch wenn die jeweiligen Sieger etwas anderes behaupten. Saidiya Hartman verfolgt mit ihrer Arbeit das Ziel, die Geschichte der Verlierer zu erzählen. In ihren letzten Büchern hat sich die aufstrebende amerikanische Kulturwissenschaftlerin umfassend mit dem Terror der Sklaverei auseinandergesetzt. Nun thematisiert sie die Phase nach deren Ende, als Millionen von schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern aus dem ländlichen Süden in die Großstädte des liberalen Nordens flohen - hoffend, dort endlich Freiheit zu finden.
Den Fokus legt Hartman auf schwarze, mitunter auch queere Frauen. Ihre zentrale These: Diese notorisch von Historikern vernachlässigten Individuen waren Visionärinnen, die uns viele Jahrzehnte zuvor sämtliche gesellschaftspolitische Errungenschaften vorgelebt haben: In den verborgenen Ecken der Großstadtslums hätten sich junge, schwarze Frauen in ein Leben voller Exzesse und Devianz gestürzt, jenseits bürgerlicher Konventionen und gängiger Geschlechterrollen.
Hartman ist keineswegs die erste Historikerin, die diese Epoche der amerikanischen Geschichte untersucht. Selbst den Schwerpunkt auf schwarze Frauen haben bereits andere gelegt. Besonders macht dieses Buch die methodische Herangehensweise, bei der die kritische Auseinandersetzung mit den Quellen genau so zentral ist wie der Gegenstand der Untersuchung selbst.
Bei der Recherche stößt die Autorin nicht auf Aufzeichnungen der Frauen selbst, sondern auf Polizeiberichte und psychiatrische Dokumentationen. Die Stimmen der kriminalisierten und enthumanisierten Körper schwarzer Frauen waren in diesen Unterlagen bisher verstummt. Hartmans Ansatz der "kritischen Fabulation" sucht nun zwischen den Zeilen die verborgene Geschichte der Verliererinnen - ihrer Heldinnen. Das Spiel mit Fakten und Fiktionen ist selbst ein aufsässiges und schönes Experiment.
Saidiya Hartman: Aufsässige Leben, schöne Experimente. Claassen, 528 S., € 28,80