Ein Jäger stößt im Wald auf die Leiche einer jungen Frau. Ihre rote Schärpe sticht aus dem winterlichen Weiß hervor. Suizid am Weihnachtstag: So beginnt Cormac Mc-Carthys zweibändiger Roman "Der Passagier" / "Stella Maris".
Der US-amerikanische Romancier, bekannt für seine besonders düstere Weltsicht, feiert 2023 seinen 90er. Seit dem Welterfolg "Die Straße" sind 16 Jahre vergangen. Der neue Zweiteiler ist wieder ein ziemlicher Brocken. Doch er hält -untypisch für ein Spätwerk - auch einige Überraschungen bereit. Die Bücher sind bei aller Finsternis nicht nur bedrückend schwer, sondern von Humor durchzogen; sie werden von absurden Wendungen und merkwürdigen Figuren bevölkert, wie man sie sonst eher bei McCarthys Kollegen Thomas Pynchon findet.
Der Heldin Alice erscheint immer wieder ein sprechender Zwerg, der vergnüglichen Unfug plappert. Dahinter steht eine ernste, traurige Geschichte: jene von ihr und Bobby, die weit mehr als geschwisterliche Liebe füreinander empfinden. Die Romane, in den 1970ern und 80ern angesiedelt, erzählen ihre jeweiligen Versionen davon. "Der Passagier", das deutlich dickere Buch, handelt von Bobbys Trauer um seine hochbegabte Schwester, die ihn auch Jahre nach ihrem Tod nicht zur Ruhe kommen lässt. Allein die grandiosen Restaurant-Gespräche zwischen Bobby und seinem Freund John sind die Lektüre wert.
Ganz in Dialogform gehalten ist "Stella Maris", das Alices Sitzungen mit einem Psychiater nach ihrer freiwilligen Selbsteinweisung in eine psychiatrische Einrichtung protokolliert. Das Buch erzählt von einer unmöglichen Liebe, führt aber auch in lichte Höhen der Mathematik. Zusammengenommen ein furioses Werk über Liebe, Wahnsinn und das 20. Jahrhundert, das Herz und Hirn gleichermaßen anspricht.