"Sagen wir, etwas Grausames passiert"
Der belgische Filmemacher Lukas Dhont erzählt im Oscar-Anwärter "Close" vom Ende einer innigen Freundschaft

Rémi (Gustav de Waele) und Léo (Eden Dambrine) sind 13 Jahre alt und beste Freunde, aber wie lange noch? (Foto: Polyfilm)
In Flandern wechseln Kinder erst mit dem 13. Lebensjahr die Schule. Nun sind Léo und Rémi davon betroffen. Zwei Buben, die wie Brüder aufgewachsen sind und auch in diesen Sommerferien ständig zusammensteckten. Léos Eltern haben eine Blumenfarm, ein idealer Abenteuerspielplatz - und eine herrliche Kulisse für die ersten Passagen des Films "Close", der neuen Arbeit des jungen Regisseurs Lukas Dhont, die für Belgien auf der Oscar-Shortlist steht und nun in unsere Kinos kommt.
Doch der heitere, unbeschwerte Anfang trügt. Denn schon bald gerät die Freundschaft der Buben unter Druck. Ihre neuen Klassenkameradinnen tuscheln und fragen die beiden auf dem Schulhof gleichermaßen naiv wie neugierig, ob sie "beisammen" seien.
Was darauf folgt, bedarf keiner langmächtigen Erklärung. Die innige Vertrautheit zwischen den Kindern weicht einem unausgesprochenen Unbehagen. Es sind kleine, zuerst kaum wahrnehmbare Gesten, durch die sich Léo mehr und mehr von Rémi distanziert, was bei diesem auf Unverständnis, schließlich auf Wut und schiere Verzweiflung stößt.
Lukas Dhont lacht. Was den Macher des Films amüsiert, ist die Klage des Kritikers, wie schwierig es sei, darüber zu schreiben, ohne den emotionalen Wendepunkt zu verraten. "Das war mir schon bei der Arbeit am Drehbuch bewusst", bekennt der Regisseur im Zoom-Interview. "Es war eine Herausforderung, aber es hat mir auch den meisten Spaß dabei gemacht. Sagen wir einfach, etwas Grausames passiert."
Tatsächlich, fährt der Filmemacher fort, erfahre in der Kindheit oder Jugend wohl ein jeder den Verlust einer tiefen menschlichen Beziehung: "Ich meine das im breitesten, wirklich poetischen Sinn des Wortes. Deshalb spricht der Film auch viele Menschen an: Er ruft Gefühle wach, die wir alle kennen."
Rémi, dargestellt von Gustav De Waele, hat beim Schulkonzert seinen großen Auftritt mit einem Flötensolo. Léo, gespielt von Eden Dambrine, schließt sich hingegen der Eishockeymannschaft an, um im Team aufzugehen; die martialische Sportmontur ist Sinnbild für seine emotionale Unnahbarkeit; dass er sich aber gleich einmal den Arm bricht, zeigt, wie ungewohnt die Rolle des harten Kerls für ihn ist.
Für die Besetzung hat sich Dhont viel Zeit genommen. Zunächst wurden verschiedene Schulen abgeklappert, dann an die 600 Buben zu einem Casting eingeladen. "Gustav und Eden waren in derselben Gruppe, und man konnte sofort die Chemie zwischen ihnen spüren. Es wollte nicht nur jeder selbst strahlen, sondern auch, dass der andere möglichst gut aussieht."
"Close" vermeidet die meisten gängigen Klischees auf bewundernswerte Weise. Es gibt keine stänkernden Rüpel in der Klasse, keine sadistischen Lehrpersonen, keine abwesenden oder über die Maßen ehrgeizigen Eltern. Kurz gesagt: Es gibt niemanden hier, der schuld wäre an dem, was passiert, es sei denn die Gesellschaft selbst mit all ihren Normen und Erwartungen. Und genau das macht diesen Film zu etwas sehr Besonderem.
"Das Kino ist voll mit Helden und Bösewichten", sagt Dhont. "Wir sind damit aufgewachsen und gehen deshalb manchmal durchs Leben, als wäre die Welt in diese Kategorien unterteilt. Ist sie aber nicht. Wir alle haben schon Dinge getan, die andere verletzten oder die nicht unbedingt heldenhaft waren. Ich wollte von diesem klassischen Gut-böse-Schema weg, deshalb habe ich mir beim Schreiben die Regel auferlegt, dass ich mit allen Charakteren genauso großzügig umgehe wie mit den beiden Hauptfiguren. Alle haben ihre Schwächen, alle tragen Gutes und Böses in sich."
Schreibt man das so hin, klingt es recht banal. Erst durch Dhonts vielschichtige Inszenierung wird deutlich, wie subtil der Film auch traditionelle Körperbilder und mit ihnen verbundene Vorstellungen infrage stellt.
Manches in "Close", vermutet der Regisseur, der Teil seiner Kindheit im ländlichen Flandern verbrachte, sei aus seinem Unterbewussten hochgekommen. Etwa das Bild des Blumenmeers, durch das Léo und Rémi anfangs tollen. Später rücken lärmende Maschinen an, die Blumen werden geschnitten und die gesamte Tonalität des Films verdunkelt sich.
„Close“ läuft ab 27.1. in den heimischen Kinos (OmU im Filmcasino)
Lukas Dhont, geboren 1991 in Gent, gelang mit seinem Debütfilm „Girl“ auf Anhieb ein internationaler Erfolg. Das Drama einer Transgender-Ballerina feierte 2018 Premiere in Cannes, erhielt die Camera d’Or, den Fipresci-Preis und die Queer Palm. Der Nachfolger „Close“ gewann 2022 in Cannes den Großen Preis der Jury. Dhont kooperiert auch mit dem Choreografen und Tänzer Jan Mertens