Die Kulturkritik der Woche
Die Wiener Gaudiband Russkaja löst sich auf und nennt ernste Gründe dafür. Sind sie glaubwürdig?
Mariche (Jessie Buckley) ist die komplexeste Figur in einem Ensemble höchst unterschiedlicher Frauen. Die Gewalterfahrung hat sie zur Zynikerin gemacht (Foto: Michael Gibson/Orion Releasing LLC)
Greta nimmt ihre Oberkieferprothese heraus. "Sie ist zu groß für meinen Mund", sagt sie entschuldigend zu den anderen Frauen, mit denen sie zusammensitzt. Rückblende zu einem Morgen in der Vergangenheit: Greta steht auf, spuckt dunkles Blut und ihre herausgeschlagenen Zähne in die Handfläche.
Es erging ihr wie vielen Frauen in der abgeschiedenen religiösen Gemeinschaft: Immer wieder wachten sie mit Blutergüssen, blutender Vagina, verletztem Gesicht auf. Manche bemerkten, dass sie schwanger sind. Von Geistern, Teufelswerk oder dem Heischen nach Aufmerksamkeit sprachen die Männer der Kolonie; einem Ort, an dem Menschen ein einfaches Leben wie in grauer Vorzeit führen und nur die Buben Schulbildung erhalten.
Bis eines Nachts ein Angreifer auf frischer Tat ertappt wird. Zahlreiche Männer der Gemeinde, so stellt sich heraus, betäubten und vergewaltigten die Frauen über Jahre immer wieder. Sie werden verhaftet. Um Kaution zu hinterlegen und den Frauen zwei Tage "Zeit für Vergebung" einzuräumen, verlassen alle Männer die Siedlung.
Die Frauen aber organisieren eine Abstimmung: Sollen sie nichts tun? Sollen sie bleiben und kämpfen - oder fortgehen? Eine Gruppe wird ausgewählt, um zu diskutieren und die kollektive Reaktion zu entscheiden. Auf einem Heuboden kommt sie zusammen, während die Wiederkehr der Männer näherrückt.
Mit "Women Talking" (deutscher Titel: "Die Aussprache") hat die kanadische Drehbuchautorin und Regisseurin Sarah Polley den gleichnamigen Roman von Miriam Toews (2018) fürs Kino adaptiert. Er beruht auf wahren Begebenheiten, die sich in den 2000er-Jahren in einer bolivianischen Mennonitenkolonie zugetragen haben.
Zeit und Ort der Filmhandlung werden nicht spezifiziert, ein Hinweis deutet das Jahr 2010 in den USA an. Wichtiger ist, was in der Scheune passiert: Es sei ein "Akt weiblicher Vorstellungskraft", steht Buchund Filmhandlung voran - der Verweis auf die Verhandlung von gesellschaftlich Gewichtigem, das über die konkrete Geschichte hinausreicht.
Polleys Werk ist ein Ensemble- und Gesprächsfilm, der die Reaktion unterschiedlicher weiblicher Figuren auf die Erfahrung extremer physischer und psychischer Gewalt sichtbar macht. "Ich vermisste die Person, die ich hätte sein können", sagt die junge Erzählerinnen-Stimme zu Beginn. Sodann führen die Frauen teilweise erbitterte Diskussionen.
Da ist die schwangere Ona (Rooney Mara), die sich ihre Träume von einer besseren Welt nicht nehmen lässt. Die kämpferische Salome (Claire Foy), die für das Wohl ihrer Kinder morden würde. Die freundliche und durchsetzungsstarke Matriarchin Agata (Judith Ivey). Die abwägende, gern in Metaphern sprechende Greta (Sheila McCarthy). Die verhärtete Scarface Janz (Frances McDormand), die sich kein anderes Leben vorstellen kann. Und Mariche (Jessie Buckley), die komplexeste Figur im Ensemble: Als Ehefrau eines offen gewalttätigen Mannes fühlt sie sich von der dazu schweigenden Gemeinschaft allein gelassen und ist zur aggressiven Zynikerin geworden.
Die Regisseurin gibt den Gesprächen viel Zeit: Die Frauen versuchen, einander zu überzeugen, und schmieden schließlich neue Allianzen. Radikal in seinem Fokus - nur ein einziger Mann, der sanfte Lehrer August (Ben Whishaw), ist aus der Nähe zu sehen -, eröffnet das Drama einen immer größer werdenden Raum feministischen Austauschs. Vom seltenen Szenario einer isolierten Glaubensgemeinschaft ausgehend, spricht der Film von Erfahrungen der Unterdrückung und Benachteiligung, die viele Frauen und Menschen, die als Mädchen erzogen wurden, kennen.
Ist das Publikum zuerst mit dem starken, bisweilen an Theater erinnernden Überhang der Sprache beschäftigt, begleitet es die Gewalt, die hier nicht gezeigt, aber angeklagt wird, noch lang nach dem Kinobesuch. In beeindruckender Weise löst Sarah Polley ein Nachdenken und Nachspüren über patriarchale Strukturen und ihre Folgen aus -von häuslicher Gewalt bis zu Femiziden, von Misogynie bis #MeToo, von Bildungs- bis zu Abtreibungsverboten, von Präsident Pussygrabber bis zum Gender-Pay-Gap. Dabei lenkt das Drama die Aufmerksamkeit auch darauf, dass Mädchen ebenso wie Buben in vielen Gesellschaften auf ein fatales soziales System konditioniert werden.
"Die Aussprache" stimmt wütend und traurig, lässt manche Zuseherin vielleicht die Person vermissen, die sie hätte sein können. In der Betonung von Zusammenhalt und heilsamer Reflexion hat der Film aber auch hoffnungsvolle Züge.
Sarah Polley selbst darf auf wichtige Preise hoffen: Ihr Werk ist in den Kategorien "Bestes adaptiertes Drehbuch" und "Bester Film" Oscar-nominiert.
„Die Aussprache“, ab 9.2. im Kino (OmU im Filmcasino und Admiral)
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