Wenn sich der Himmel öffnet
Die Lautenistin und Dirigentin Christina Pluhar hat die Alte Musik revolutioniert. Jetzt tritt sie endlich wieder in Wien auf

Grenzenlose Spiellust und Experimentierfreude auch im Aufnahmestudio: Christina Pluhar und ihr Originalklang-Ensemble L’Arpeggiata (Foto: Michal Nowak/Warner Music)
Wenn ein spanischer Fandango mit einem argentinischen Tango Nuevo Piazzollas um die Wette tanzt, italienische Canzone und Tarantelle eine unwiderstehliche "Alla napolitana" bilden, Monteverdi plötzlich jazzig klingt und Orpheus zu einem Schamanen mutiert, steckt vermutlich Christina Pluhar dahinter, die demnächst wieder in Wien gastiert. Mit ihrem Originalklang-Ensemble L'Arpeggiata erforscht die Lautenistin und Dirigentin seit über 20 Jahren das Repertoire des italienischen Frühbarocks und entwickelt Projekte, zu denen sie Jazzmusiker ebenso einlädt wie Tänzer und Volksmusiker.
Zu den Spezialitäten von L'Arpeggiata gehört es nämlich auch, traditionelle Lieder und Tänze aus anderen Ländern für Barockorchester zu arrangieren und mit Fado-Gitarre, griechischer Lyra oder türkischem Qanun zu kombinieren. Auf dem neuen Album "Passacalle de la Follie" singt der Countertenor Philippe Jaroussky Lieder aus dem 17. Jahrhundert, die für den französischen Hof komponiert wurden.
Das zentrale Element in Pluhars Musik ist die Improvisation. Improvisiert wird praktisch immer: bei Proben, Aufnahmen und bei Auftritten sowieso. Nicht anarchisch, sondern im Rahmen fester Regeln und mit akribischer Vorbereitung. Damit befindet sich die 1965 in Graz geborene Musikerin in bester Gesellschaft, schließlich war die Kunst der Improvisation im 17. Jahrhundert noch fester Bestandteil der Aufführungspraxis. "Damals wurden nur die ostinaten Bässe auf Papier notiert", erklärt Pluhar (mit
Erika nicht verwandt oder verschwägert). "Sie bildeten das melodische und rhythmische Gerüst für die Künstler, die darauf improvisierten." Die Partituren wurden weder orchestriert noch gab es konkrete Hinweise zur Interpretation. Das kam erst später mit Monteverdi, Händel und Bach.
Auf der Gitarre spielte Pluhar schon als kleines Mädchen am liebsten Renaissance- und Barockmusik. Später studiert sie an der Musikhochschule Graz und schlittert 18-jährig in eine Sinnkrise: "Ich hatte das Gefühl, mit dem Repertoire für mein Instrument durch zu sein, und wusste nicht, wie es mit der Musik weitergehen soll."
Dann nimmt sie ein Kollege mit zu einem Kurs nach Italien, wo Laute und Alte Musik gelehrt werden. Eine lebensverändernde Erfahrung. Hier trifft sie auf Gleichgesinnte, entdeckt das Lautenspiel für sich ("Es war, als ob sich der Himmel geöffnet hätte") und ist derart talentiert, dass sie eine Einladung in die Niederlande erhält. Zurück in Graz packt sie ihre Sachen und übersiedelt direkt nach Den Haag.
Anfang der 1980er-Jahre herrscht in den Niederlanden Aufbruchstimmung. Die Alte-Musik-Bewegung will die Klassik auf den Kopf stellen und mit neuen Klängen revolutionieren. Für Pluhar ist es eine Offenbarung. Sie beginnt intensiv zu forschen, lernt historische Improvisation und studiert die Spielpraxis des 17. Jahrhunderts.
Auf die Zeit in Den Haag folgen Zwischenstationen in Basel und Mailand, zwei weiteren Hochburgen der Barockmusik. Nach dem Studium wird Paris zu Pluhars neuem Zuhause; sie reist als Solistin und Basso-continuo-Spielerin um die Welt. Neben der Theorbe, einer fast zwei Meter langen Langhalslaute, spielt sie auch Barockharfe, die im Gegensatz zu den modernen Instrumenten über drei Saitenreihen verfügt und eine entsprechende Virtuosität erfordert.
Zehn Jahre lang musiziert sie in den unterschiedlichsten Formationen und arbeitet unter anderen mit Jordi Savall und René Jacob, den Großmeistern der Alten Musik. Im Jahr 2000 gründet Pluhar schließlich ihr eigenes Ensemble L'Arpeggiata, benannt nach dem Stück "Toccata Arpeggiata" des frühbarocken venezianischen Lautenisten und Komponisten Johann Kapsberger.
"Das Wort ,arpeggieren' bezieht sich aber auch auf das gemeinsame Spiel in der Basslinie und die vielen unterschiedlichen Klangfarben der Instrumente, die zusammen eine dichte Klangwolke bilden", erklärt Pluhar, die mit ihrem Ensemble seit einigen Wochen Händels Oratorium "Belshazzar" in Wien probt. Seine Premiere erlebt die Produktion am 20. Februar.
Anders als viele Dirigenten wählt die 58-Jährige zuerst die Solisten aus und schneidert ihnen anschließend Programme auf den Leib. "Von der Idee bis zum fertigen Projekt vergehen oft Jahre. Ich stöbere in Bibliotheken und lese kilometerweise Noten, bis ich eine Auswahl treffe".
Als es noch keine digitalen Kataloge gab, musste Pluhar dafür nach Italien reisen. Dort fand sie Originalpartituren, die seit ihrer Entstehungszeit niemand gespielt hatte: "In der Bibliothek des Vatikans habe ich die Handschriften von Luigi Rossi, der dort gewirkt hat, in den Händen gehalten. Das war ein großer Moment. Auch wenn heute vieles einfacher ist, möchte ich diese Zeit nicht missen."
"Belshazzar" von G. F. Händel, Theater an der Wien im MQ, 20.2 bis 2.3., 19.00
"Händel goes wild": Christina Pluhar & L'Arpeggiata, Theater an der Wien im MQ, 25.2., 19.00