Butscha, Leninstraße 10
Vor einem Jahr marschierten Putins Truppen in der Ukraine ein. Zwei Familien erzählen von ihrer Flucht, den Kriegsverbrechen vor der Haustüre, dem Widerstand und vom Alltag im Krieg

Foto: Nina Brnada
Die Bewohner der Wohnblöcke der Leninstraße 10 in Butscha rechneten nicht mit Krieg. Im Morgengrauen des 24. Februar 2022 herrschte in den Schlaftürmen dieses Kiewer Vororts noch Nachtruhe. In keinem der Fenster brannte Licht, erinnert sich Girey Ismailov ein Jahr danach und deutet auf die gegenüberliegenden Häuser: „Alle schlummerten wie die Babys.“ Er und seine Frau Ayshe* aber waren damals hellwach. Sie ahnten, dass sich etwas zusammenbraut. Vor Monaten bereits hatten sie Dokumente in eine Tasche gepackt, für den Fall, dass sie flüchten müssen.
Um 4.30 Uhr früh saßen Girey und Ayshe auf dem cremefarbenen Sofa im Wohnzimmer ihres Appartements und starrten auf den Flachbildschirm, über den das Bild von Wladimir Putin flimmert. Er wolle mittels einer militärischen „Spezialoperation“ die Ukraine „demilitarisieren“, begann der Kreml-Chef zu verlautbaren. Noch während Putin sprach, wurden aus seinen Worten aus dem Fernseher Explosionen vor den Fenstern. „Bum, bum, bum. One, two, three, four“, erzählt Girey. Dröhnende Raketen über den Dächern der Leninstraße 10, „massive Dinger, so laut wie Flugzeuge“.